Tuesday, March 12, 2024

„Hier sagen viele: ‚Schaut euch an, eure ganzen tollen Sanktionen – und Moskau boomt!‘“

WELT „Hier sagen viele: ‚Schaut euch an, eure ganzen tollen Sanktionen – und Moskau boomt!‘“ Lara Jäkel • 2 Std. • 4 Minuten Lesezeit Die Sanktionen des Westens sollten Russland in die Knie zwingen – doch zwei Jahre nach Kriegsbeginn läuft die Wirtschaft auf Hochtouren. Das liegt auch an einer globalen Machtverschiebung, bei der Deutschland und der Westen verlieren. Fehlende Produkte werden auf anderen Wegen beschafft. Die Versorgungslage in Moskau ist trotz vieler westlicher Sanktionen gut Es waren große Worte, die das erste EU-Sanktionspaket nach dem Überfall auf die Ukraine begleiteten: „Das wird Russland ruinieren“, versprach Außenministerin Annalena Baerbock damals, im Februar 2022. Inzwischen ist das 13. Sanktionspaket der EU verabschiedet worden; auch die USA haben nach dem Tod des Regimekritikers Alexej Nawalny erneut Hunderte Sanktionen nachgeschoben. Die Maßnahmen beinhalten Einfuhr- und Ausfuhrverbote für etliche Waren, eingefrorene Vermögen in Milliardenhöhe, Einreiseverbote für Tausende Einzelpersonen, Strafmaßnahmen gegen Banken, Finanzinstitute und Unternehmen. Längst ist Russland das am meisten sanktionierte Land der Welt – doch die russische Wirtschaft scheint das kaum zu schwächen. Nach einem anfänglichen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts im Jahr 2022 legte es im darauffolgenden Jahr wieder zu, nach russischen Angaben um 3,5 Prozent. Für 2024 prognostiziert der Internationale Währungsfonds (IWF) ein erneutes Wachstum von 2,6 Prozent. Dagegen schrumpfte die deutsche Wirtschaft zuletzt um 0,3 Prozent; für das aktuelle Jahr fallen die Prognosen ähnlich aus. „Bei uns im Westen hieß es schnell: Mit den Sanktionen werden wir Russland in die Knie zwingen. Darauf warten wir aber immer noch“, sagt Oliver Kempkens. Der Unternehmer lebte knapp vier Jahre in Moskau, arbeitete dort unter anderem für die russische Sberbank. Nach dem Überfall auf die Ukraine verließ er Russland, reist aber noch gelegentlich privat in das Land. WELT erreicht ihn telefonisch bei einem dieser Besuche in Moskau. Dort jedenfalls seien die Auswirkungen der Sanktionen nur begrenzt zu spüren, berichtet Kempkens. Zwar prägten zunehmend chinesische statt westliche Autos das Stadtbild, und auch einige Konsumgüter seien schwieriger zu bekommen. „Aber die Dinge, die fehlen, werden einfach kreativ auf anderen Wegen beschafft.“ Wohlhabende Russen würden etwa ihre Einkäufe in Dubai machen oder über Istanbul in den Urlaub fliegen. „Hier sagen viele: ‚Schaut euch an, eure ganzen tollen Sanktionen – und Moskau boomt!‘“ Abseits der großen Städte, wo die Menschen ohnehin meist in einfacheren Verhältnissen leben, haben die Maßnahmen ebenfalls wenig sichtbare Folgen. Selbst die anfänglich explodierende Inflation – insbesondere bei den Preisen für Nahrungsmittel – hat sich inzwischen im mittleren einstelligen Bereich eingependelt und wird durch teils stark angestiegene Löhne ausgeglichen. Die russische Wirtschaft entscheidend zu schwächen, davon ist man weit entfernt Auch auf gesamtwirtschaftlicher Ebene hat Russland etliche Wege gefunden, die Sanktionen des Westens zu umgehen: Offshore-Konten und Scheinfirmen, Schattenflotten und sogenannte Parallelimporte, bei denen Waren über ein nicht sanktioniertes Land nach Russland gelangen. Möglich machen das ehemalige Sowjetrepubliken wie Belarus oder Kasachstan, aber auch Staaten wie die Türkei, China, Indien oder Saudi-Arabien, die sich in Sachen Ukraine-Krieg zwar neutral geben, den Handel mit Russland allerdings stark ausgeweitet haben. „Im Supermarkt hat man hier die Auswahl zwischen einer iranischen Cola, einer türkischen Cola und einer polnischen Cola“, erzählt Kempkens. „Manche machen daraus ein Spiel, welche sie heute erwischen.“ Aber auch wichtige Bauteile und Materialien für die russische Kriegswirtschaft gelangen so ins Land. Die EU versucht seit einiger Zeit gegenzusteuern und hat Sanktionen gegen Unternehmen und Einzelpersonen in Drittländern verhängt. Mit mäßigem Erfolg. Zum einen, weil diese Art von Sanktionen – auch wegen Bedenken der Bundesregierung über die diplomatischen Beziehungen zu den betroffenen Ländern – erst spät und in abgeschwächter Form ausgesprochen wurden. Zum anderen, weil die Wege von sanktionierten Waren über Drittländer durch globale Lieferketten und intransparente Gesetzgebungen kaum zu verfolgen sind. „Um Parallelimporte zu unterbinden, muss man wissen, wo sie herkommen. Das ist die große Schwierigkeit“, sagt Ex-Manager Kempkens. „Mit dem aktuellen EU-Paket werden gerade einmal 200 Personen und Organisationen sanktioniert. Wahrscheinlich gibt es Tausende Beteiligte, die man gar nicht kennt.“ Die Vielzahl der Sanktionen macht es für Russland zwar aufwändiger und teurer, bestimmte Produkte zu beschaffen. Doch, wie einst erhofft, die russische Wirtschaft entscheidend zu schwächen – davon ist man weit entfernt. Neben den Drittländern, die ob eigener ökonomischer Interessen nur allzu gern bei der Umgehung von Sanktionen unterstützen, tragen dazu auch einige innerrussische Faktoren bei. Dazu zählen eine geringe Auslandsverschuldung, ein hoch angesetzter Leitzins, der den Rubel vergleichsweise stabil hält, und eine relativ autarke Lebensmittelversorgung. Auf diese Weise wird Russland, den Einschätzungen verschiedener Experten zufolge, seine Kriegswirtschaft trotz aller Sanktionen noch jahrelang fortführen können. Das maßgeblich auf der Produktion von Waffen und Munition basierende Wirtschaftswachstum ist zwar keineswegs nachhaltig. Doch das muss es aus russischer Sicht auch nicht sein: Putin dürfte einzig daran interessiert sein, länger durchzuhalten als die Ukraine. „Es ist ein Spiel auf Zeit, das die Russen ganz bewusst eingehen“, sagt Kempkens. „Wohl wissend, dass der Westen viele Probleme hat.“ Wie lange die westlichen Verbündeten der Ukraine ihre finanzielle und militärische Unterstützung im jetzigen Ausmaß aufrechterhalten können (und wollen), ist tatsächlich ungewiss. Die Sanktionen und Hilfsleistungen kosten allein die deutsche Wirtschaft Milliarden, kurbeln die Inflation an und verschärfen die ohnehin großen Lücken im Haushalt. Der Spielraum für neue Sanktionen ist begrenzt, auch, weil die Zustimmung für die Ukraine-Hilfen in der Bevölkerung Deutschlands und anderer EU-Länder tendenziell abnimmt. Die USA drohen sich bei einem Wahlsieg Donald Trumps gar vollständig aus der Allianz gegen Russland zurückzuziehen. So könnte es Putin langfristig gelingen, das wirtschaftliche Machtspiel mit dem Westen zu gewinnen.