Wednesday, March 6, 2024

Gastbeitrag von Gabor Steingart - Die Kanzler-Autorität schmilzt dahin wie ein Schneemann in der Sonne

FOCUS online Gastbeitrag von Gabor Steingart - Die Kanzler-Autorität schmilzt dahin wie ein Schneemann in der Sonne Von Gastautor Gabor Steingart (Berlin) • 3 Std. Olaf Scholz ist bei den Deutschen nicht sonderlich beliebt. Auch innerhalb der Regierung wird er zunehmend kritisiert. Anders formuliert: Die Kanzler-Autorität schmilzt dahin wie ein Schneemann in der Sonne. Jeder weiß: Die Beliebtheit von Kanzler Olaf Scholz in der Bevölkerung ist nicht allzu hoch ausgeprägt. Mit Ausnahme der Taurus-Entscheidung verfügt er in keiner relevanten Sachfrage über eine Mehrheit im Volk. Neu ist: Auch innerhalb der Regierung ist Scholz zur Zielscheibe von Kritik geworden. Seine Führungskraft wird allgemein als eher schwach eingeschätzt. Wenn das Kabinett eine Musterhaussiedlung wäre, würde Olaf Scholz als das Niedrigenergiehaus gelten. Das Besondere: Die Opposition innerhalb der Regierung muss sich auf Samtpfoten anschleichen. Friedrich Merz darf laut und grob sein. Er ist per definitionem der Poltergeist im Hohen Haus. Der geübte Samtpfoten-Politiker muss seine Kritik wohltemperiert vortragen können Die interne Opposition darf zwar so fühlen, aber nicht so reden. Der geübte Samtpfoten-Politiker muss seine Kritik wohltemperiert vortragen können, sodass sie vom Kanzler und den Medien verstanden wird, ohne dass es im Porzellanladen ständig scheppert. Das Risiko: Der Bundeskanzler besitzt nach Artikel 65 des Grundgesetzes die Richtlinienkompetenz. Er darf also ohne Angabe von Gründen jeden Abweichler in den eigenen Reihen des Kabinetts unverzüglich feuern. Je lädierter seine Autorität, desto größer die Versuchung, hier einen Autoritätsnachweis zu liefern. So erteilte Kanzlerin Angela Merkel ihrem damaligen Umweltminister Norbert Röttgen am 16. Mai 2012 eine bittere Lektion, nachdem er versucht hatte, die Landtagswahl in NRW zur Abstimmung über Merkels Euro-Rettungspolitik zu stilisieren. Weniger als 72 Stunden nach Schließung der Wahllokale stand er – den sie bis dahin „Muttis Klügsten“ genannt hatten – auf der Straße. Annalena Baerbock: Die tapferste Kämpferin für die Freiheit der Ukraine Die Botschaft strahlt über den Tag hinaus: Illoyalität ist im politischen Geschäft tödlich und muss es auch sein. Wie sonst kann die Autorität in einer Mehrparteienkoalition gesichert werden. Die Hitparade der heutigen Samtpfoten-Politiker wird von Annalena Baerbock angeführt: Die Außenministerin hält den Bundeskanzler in der Ukraine-Politik für einen Hasenfuß mit Schlips, der allen Ernstes glaubte, am Beginn eines neuerlichen europäischen Krieges mit 5.000 Helmen davonzukommen. Beim Marschflugkörper Taurus pflegt Scholz dieselbe Abwehrhaltung, die sich mittlerweile zu einem Basta verdichtet hat. „Wir dürfen an keiner Stelle und an keinem Ort mit den Zielen, die dieses System erreicht, verknüpft sein“, begründete Olaf Scholz vor der dpa-Chefredakteurskonferenz seine Ablehnung. Annalena Baerbock: Sie ist die tapferste Kämpferin für die Freiheit der Ukraine innerhalb der Regierung und mit diesem Nein nicht einverstanden. Schon im Dezember vergangenen Jahres empfahl sie, den Marschflugkörper Taurus der Ukraine zur Verfügung zu stellen: „Es braucht Waffen mit Reichweite, wie sie eben auch die Franzosen oder die Briten geliefert haben.“ Scholz spürt die Vibration Im Unterschied zu anderen, die ebenfalls die maximale Ausstattung der Ukraine befürworten, bleibt sie trotz des Nein des Kanzlers deutlich. Bei einem Besuch in Montenegro erklärte sie auf die Frage, ob die Beteiligung von Bundeswehrsoldaten bei dem Einsatz von Taurus-Raketen notwendig sei: Alle Materialien, die zur Beendigung des Leidens der Zivilbevölkerung benutzt werden können, „müssten wir intensiv prüfen. Aus meiner Sicht ist die Faktenlage sehr, sehr klar.“ Scholz spürt die Vibration: Seine internen Kritiker versetzen ihn seit Tagen in Alarmbereitschaft. So sprach er den für Annalena Baerbock, Anton Hofreiter und Marie-Agnes Strack-Zimmermann unmissverständlichen Satz: „Ich bin der Kanzler und deshalb gilt das.“ Unser Landwirtschaftsminister: Auch er ist ein Samtpfoten-Politiker von hohen Gnaden. Er half den Bauern, das Spardiktat von Scholz, Lindner und Habeck zu Fall zu bringen. Er sei von dieser Subventionskürzung – es ging um 900 Millionen Euro zulasten der Bauern – „überrascht“ gewesen und habe de facto mit Rücktritt gedroht: „Gehen Sie davon aus, dass ich nach der ersten Entscheidung deutlich gemacht habe: Wenn die Beschlüsse so bleiben, dann macht meine Arbeit keinen Sinn.“ Scholz wurde nicht angesprochen, aber er war gemeint Die Samtpfote brachte den Erfolg: Das Kürzungstrio trat den Rückzug an und erließ den Bauern die Hälfte der Summe, sodass Cem Özdemir plötzlich als Held der Landwirte dastand. Womit wir bei Christian Lindner wären: Der Finanzminister und Parteichef, dessen FDP latent an Schwindsucht leidet, kann sich eine allzu große Scholz-Treue gar nicht mehr leisten. Seine Wähler verlangen von ihm, dass er auf Distanz zu den Roten und den Grünen geht, ohne dass es gleich zum Bruch der Koalition kommt. Er war der einzige Regierungspolitiker, der sich kritisch zum Kanzler-Neubau auf der anderen Spreeseite äußerte. Dieses Vorhaben, das mutmaßlich 800 Millionen Euro kostet und eine Verdopplung der Quadratmeterzahl bringen soll, passt ihm, der für Sparsamkeit steht, nicht in den Kram. In der Sendung von Sandra Maischberger sagte er vor einigen Monaten: „Ich glaube, dass in Zeiten von mehr Home-Office und ortsflexiblem Arbeiten ein mindestens 800 Millionen teurer Neubau neben dem Kanzleramt entbehrlich ist.“ Scholz wurde nicht angesprochen, aber er war gemeint. Intern gab es Rüffel. Christian Lindner hat diese Kritik seither nicht mehr wiederholt. Kanzler-Autorität schmilzt dahin wie ein Schneemann in der Sonne Doch spätestens mit der Taurus-Entscheidung von Scholz rumort es wieder in der FDP. Die Loyalität zum Kanzler schwindet. Mittlerweile denken die Liberalen unverhohlen darüber nach, die Kanzlermehrheit von nur 48 Sitzen zu dezimieren. Mindestens ein Dutzend FDP-Abgeordnete, so sagte es gestern der FDP Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki dem Merkur, würden dem Kanzler im Bundestag bei der nächsten Taurus-Entscheidung von der Fahne gehen. „Schon beim letzten Mal hätten mindestens ein Dutzend weitere Kolleginnen und Kollegen, die ich kenne, liebend gern dem Unions-Antrag zugestimmt, haben sich aber der Koalitionsdisziplin gefügt. Ich war auch kurz davor. Diesmal wäre für mich der Punkt erreicht, es zu tun.“ Fazit: Die Kanzler-Autorität schmilzt dahin wie ein Schneemann in der Sonne. Olaf Scholz muss die Samtpfoten-Politiker nicht lieben, aber er sollte sie ernst nehmen. Oder wie der französische Diplomat Talleyrand-Périgord zu sagen pflegte: „Verrat, Sire, ist nur eine Frage des Datums.“