Monday, March 18, 2024

EU-Beauftragter Letta: „Alle Daten zeigen, dass wir von den USA abgehängt werden“

Handelsblatt EU-Beauftragter Letta: „Alle Daten zeigen, dass wir von den USA abgehängt werden“ Volkery, Carsten • 3 Std. • 5 Minuten Lesezeit Enrico Letta , ehemaliger Ministerpraesident Italiens im Interview in Berlin am 14.04.2015 Der EU-Sonderbeauftragte Enrico Letta arbeitet an einer Reform des Europäischen Binnenmarkts. Sein Rezept: mehr EU, vor allem bei Finanzen. Wenige Monate vor seinem Tod empfing der Gründervater des Europäischen Binnenmarkts, Jacques Delors, im vergangenen September einen Gast aus Italien. Der EU-Sonderbeauftragte Enrico Letta suchte den Rat des Veteranen, weil er für die Regierungschefs einen Bericht zur Zukunft des Binnenmarkts erstellen soll. Der ehemalige Kommissionspräsident Delors sei glücklich gewesen, ihn zu sehen, erzählt Letta im Interview mit dem Handelsblatt. Schließlich sei die geplante Binnenmarktreform eng mit seinem intellektuellen Erbe verbunden. „Er sagte mir, es gebe drei Sektoren, in denen die Regierungen 1985 keinen Binnenmarkt wollten: Telekom, Energie und Finanzen.“ Letta will nun empfehlen, das Lebenswerk Delors‘ zu vollenden und auch in diesen drei Branchen die nationalen Hürden zu beseitigen. Im April will er seinen Bericht bei einem EU-Sondergipfel vorstellen. Die Diagnose des italienischen Sozialdemokraten fällt eindeutig aus: Europa falle im Wettbewerb mit den USA zurück, weil der Wirtschaftsraum immer noch zu zersplittert sei. „Alle Daten zeigen, dass wir von den USA abgehängt werden“, sagt er. Das liege daran, „dass die USA die Vorteile ihres Binnenmarkts nutzen, während wir unseren Binnenmarkt nicht genug nutzen“. In den vergangenen sechs Monaten hatte Letta 300 Meetings in 50 Städten, um die Stimmungslage in Europa zu sondieren. „Die Regierungen sind sich bewusst, dass wir ein Wachstumsproblem haben“, sagt er. In seinen Gesprächen mit Unternehmen habe er den Eindruck gewonnen, sie träumten von einem europäischen Pendant zum „Inflation Reduction Act“ (IRA), dem grünen Subventionsprogramm der US-Regierung. Er gibt zu bedenken, dass der IRA deshalb ein Erfolg sei, weil die Steuerrabatte für Cleantech-Investitionen, also Investitionen in grüne Energie, so einfach und automatisch seien. „So etwas wäre unmöglich in Europa, solange wir unser Steuersystem nicht harmonisieren“, betont Letta. „Dies ist ein Beispiel eines Traums, der nicht Wirklichkeit werden kann, weil unser Markt fragmentiert ist.“ Unter der Kleinstaaterei leiden Letta zufolge vor allem die kleinen und mittleren Unternehmen. „Wenn eine Firma in einem Umfeld arbeitet, in dem es 27 Versionen des Gesellschaftsrechts, 27 Insolvenzgesetze und 27 Steuersysteme gibt, bedeutet das, dass der Binnenmarkt vor allem für große Konzerne besteht und nicht für kleine und mittlere Unternehmen“, sagt der Politiker. Dabei seien 95 Prozent aller Firmen in Europa kleine und mittlere Unternehmen (KMU). In seinem Bericht will er „Ideen und Instrumente“ vorschlagen, wie KMUs vom Binnenmarkt profitieren können. ///Letta kritisiert Dienstleistungsrichtlinie // . Nachbesserungsbedarf sieht er etwa bei der Dienstleistungsrichtlinie von 2006. Diese sollte eigentlich sicherstellen, dass Betriebe ihre Dienste problemlos auch in Nachbarländern anbieten können. Doch sei dieses Gesetz eine der „am schlechtesten umgesetzten Richtlinien“, sagt Letta. Es gebe weiterhin zu viele nationale Hürden, mit denen Regierungen ihre heimischen Betriebe vor ausländischer Konkurrenz schützen. Vielleicht müsse man darüber nachdenken, künftig nur noch EU-Verordnungen zu erlassen, die überall gleich gelten, statt den Mitgliedstaaten Spielraum bei der Umsetzung zu lassen. Die Klagen vieler Mittelständler, dass Brüssel insgesamt zu viel reguliere, greift Letta ebenfalls auf. Das von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) vorgegebene Ziel, 25 Prozent der Berichtspflichten zu streichen, sei ein wichtiges Signal. Man müsse auf die Sorgen der Wirtschaft hören, sagt er. Deshalb will er auch Vorschläge zum Bürokratieabbau machen. ///Drei zentrale Herausforderungen für die EU // . Aus Sicht von Kritikern entfernt sich die EU seit Jahren von der ursprünglichen Idee des Binnenmarktes. Statt Märkte zu liberalisieren, wird immer mehr reguliert und staatlich gefördert. Auf Krisen antworten die Regierungen zunehmend mit nationalen Interventionen – und die Brüsseler Kommission lässt sie gewähren. So war es zuletzt bei den massiven Subventionen in der Coronapandemie und der Energiekrise. Statt den Trend zu stoppen, lockerte die Kommission die Regeln für Staatsbeihilfen. Letta sagt, die außergewöhnliche Lage in den vergangenen vier Jahren habe nationale Antworten erfordert. Aber nun müsse man schrittweise zu mehr Entscheidungen und Unterstützung auf EU-Ebene gelangen. Eine zentrale Diskussion der kommenden Jahre werde sein, wie man die drei großen Herausforderungen Europas finanziere: - den grünen und digitalen Umbau der Wirtschaft, - die Verteidigungsfähigkeit - und die Erweiterung der EU um neue Mitglieder. Öffentliche Gelder reichten nicht aus, sagt Letta. Er weiß, dass viele Länder, allen voran Deutschland, neue Gemeinschaftsschulden nach dem Vorbild des Corona-Wiederaufbaufonds NextGenEU ablehnen. Entscheidend sei die Mobilisierung von privatem Kapital, sagt er. ///Kapitalmarktunion ist oberste Priorität // . Die Ersparnisse der Europäer dürften nicht länger in die USA abfließen, sondern müssten hierzulande eingesetzt werden. Dafür müsse man die nationalen Grenzen der Kapitalmärkte einreißen. „Wenn wir es nicht schaffen, bei den Finanzen einen entscheidenden Fortschritt zu machen, wird alles andere schwierig“, sagt er. Die Wachstumslücke zu den USA wachse auch deshalb, „weil wir nicht schnell genug waren, unsere Kapitalmärkte zu integrieren. Jetzt zahlen wir den Preis dafür“, so Letta. Den jüngsten Beschluss der Finanzminister, die Kapitalmarktunion wiederzubeleben, nennt er einen „guten Schritt“. Die Euro-Gruppe hatte der Kommission aufgetragen zu prüfen, wie sich die vielen Börsen konsolidieren lassen und wie man die Finanzmarktaufsicht enger koordinieren kann. Zugleich warnt Letta vor zu viel Reformeifer. Man müsse „pragmatisch und realistisch“ bleiben. Das bedeutet: keine radikalen Schritte, die eine Änderung der EU-Verträge erfordern würden. „Ich will kein Buch der Träume schreiben“, sagt er. ///Warnung vor Beitritt der Ukraine // . Dazu gehört ein realistischer Umgang mit der Ukraine. Er habe auf seiner Tour viele Sorgen vernommen, was ein EU-Beitritt der Ukraine kosten würde, sagt er. Erstmals seit vielen Jahren habe er wieder den Begriff „Absorptionsfähigkeit“ gehört, also die Sorge, dass die EU sich mit der Aufnahme des großen Agrarlandes übernehmen könnte. Die Erweiterung sei eine positive Mission der EU, sagt er. „Aber wir können sie nicht aus dem aktuellen Haushalt finanzieren.“ Die Agrar- und Kohäsionspolitik müsse komplett neu gedacht werden. Tatsächlich führen schon jetzt die Getreideimporte aus der Ukraine zu Bauernprotesten in Polen. Nach einem Beitritt des Landes würden die Verteilungskämpfe um die EU-Fördergelder erst recht losgehen. Mit den Kohäsionsfonds werden strukturschwache Regionen gefördert, damit das Gefälle zwischen ärmeren und reicheren Ländern im Binnenmarkt abnimmt. Letta sagt, Jacques Delors habe ihm einen wichtigen Rat gegeben. Er sagte: „Denk immer dran, der Binnenmarkt wurde deshalb ein Erfolg, weil ich zugleich die Kohäsionspolitik gestartet habe. Es gibt keinen erfolgreichen Binnenmarkt ohne die Kohäsionspolitik.“