Monday, May 2, 2022
In Nordirland bahnt sich Historisches an
WELT
In Nordirland bahnt sich Historisches an
Stefanie Bolzen - Vor 1 Std.
Der kommende Donnerstag hat gute Chancen, als historischer Tag in die irische Geschichte einzugehen. 1,3 Millionen Wähler sind aufgerufen, für ein neues Parlament in Nordirland zu stimmen – und Sinn Féin könnte zum ersten Mal als Sieger aus der Abstimmung hervorgehen.
Die Frau, die dann als „First Minister“ ins Abgeordnetenhaus von Stormont einziehen würde, entstammt einer ganz anderen Generation als jener, die in Deutschland mit dem mörderischen Kampf der Irish Republican Army (IRA) verbunden wird. Ihr „politischer Arm“ war Sinn Féin, als Führungsfiguren des bewaffneten Aufstands galten etwa Gerry Adams oder Martin McGuiness.
Michelle O’Neill ist 45 Jahre alt. Sie war 16, als sie das erste ihrer beiden Kinder bekam, und 21, als 1998 das Karfreitagsabkommen zwischen den verfeindeten Lagern geschlossen wurde. Für sie war es der Auslöser, in die Politik zu gehen.
Sie wuchs in einer republikanischen Familie auf, die wie so viele andere Teil der „Troubles“ – der Unruhen in Nordirland – war. Ihr Vater, ein Sinn-Féin-Stadtrat, kam wegen seines politischen Engagements ins Gefängnis. Zwei Cousins und IRA-Mitglieder wurden erschossen, als O’Neill ein Teenager war.
„Ich will ein vereintes Irland sehen“, sagt O’Neill, betont im Wahlkampf aber lieber, „was wir erreichen können, wenn wir gemeinsam arbeiten“. Auch vermeidet sie allzu deutliche Kommentare dazu, dass zum ersten Mal proirische Nationalisten an die Spitze der Exekutive gelangen könnten und nicht mehr wie traditionell die probritischen Unionisten. Diese Möglichkeit sei „in der Tat enorm wichtig“ für ihre Partei, erklärte die Sinn-Féin-Vorsitzende in einem BBC-Interview lediglich. Aber auch nichts anderes „als das gelebte Karfreitagsabkommen“.
Der 1998 geschlossene Friedensvertrag, der drei Jahrzehnte des Terrors mit mehr als 3000 Toten auf beiden Seiten beendete, schreibt die Machtteilung zwischen Katholiken und Protestanten in der nordirischen Regionalregierung vor. Seitdem stellten stets die probritischen Parteien den Ministerpräsidenten.
Belfast, 10. April 1998: Der britische Premier Tony Blair (l.) und sein irischer Amtskollege Bertie Ahern unterzeichnen das Friedensabkommen
Die Democratic Unionist Party (DUP) lässt offen, ob sie nun einen „First Minister“ der Sinn Féin akzeptieren wird. Da Umfragen einen soliden Vorsprung für die Pro-Iren sehen, steht neues politisches Chaos an.
Und das just in einem Moment, in dem Irlands Norden weit über die Insel hinaus politische Bedeutung hat. Schuld ist der Brexit. Weil das Vereinigte Königreich kein EU-Mitglied mehr ist, müsste zum Schutz des Binnenmarkts eine Grenze zwischen Norden und Süden gezogen werden. Um das zu vermeiden, ließ sich Premier Boris Johnson im Herbst 2019 auf eine Seegrenze ein.
Güter, die aus Großbritannien nach Nordirland gehen, müssen seit Anfang 2021 kontrolliert werden. Das löste unter den Unionisten solche Empörung aus, dass Johnson seine Zusagen an die EU wieder infrage stellte. Seither schwelt der Streit zwischen London und Brüssel um das „Nordirland-Protokoll“.
Obwohl die EU-Kommission ihre strengen bürokratischen Vorschriften im Oktober substanziell verbesserte, gibt Johnson nicht nach. Nun soll es Medien zufolge Pläne für ein Gesetz geben, das das internationale Abkommen mit der EU aushebeln und britischer Gesetzgebung den Vorrang geben würde. Eine neuerliche Eskalation der seit dem Brexit ohnehin fragilen Beziehung zwischen Insel und Kontinent, die sich wegen des Ukraine-Kriegs gerade erst verbessert hatte.
Die Kommission habe für die im Oktober 2021 angebotenen Erleichterungen des Nordirland-Protokolls „weitreichende Spielräume genutzt und praktikable Lösungen vorgestellt. Es sollte keine weiteren Vorschläge mehr geben. Eine Nachverhandlung des Protokolls ist keine Option“, sagt David McAllister (CDU), Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im EU-Parlament, zu WELT AM SONNTAG. Die EU dürfe „nicht ignorieren, dass die unzureichende Umsetzung des Protokolls ein Risiko für unseren Binnenmarkt darstellt“.