Wednesday, December 4, 2024

Frankfurt: Verzweiflung, Flucht und Neuanfang

FR Frankfurt: Verzweiflung, Flucht und Neuanfang Anja Laud • 7 Std. • 4 Minuten Lesezeit NS-Zeit Das Deutsche Exilarchiv feiert sein 75-jähriges Bestehen. Zum Jubiläum erweitert es seine Ausstellung in der Nationalbibliothek in Frankfurt. Lieber Pappie ich bin jetzt augenblicklich in Marseille in einem nicht unvornehmen Hotel“, schreibt der zehnjährige Thomas Hofner in seinem letzten Brief an seinen Vater, ehe er am nächsten Morgen mit seinem „Onkel Lin“ ein Schiff nach Ceylon, dem heutigen Sri Lanka, besteigt. Seine jüdischen Eltern haben ihn vor Kriegsbeginn dem Verwandten anvertraut, um ihn vor der Verfolgung der Nationalsozialisten zu schützen. Der Brief des Kindes ist in der Deutschen Nationalbibliothek in der neu gestalteten und erweiterten Dauerausstellung des Deutschen Exilarchivs zu sehen, die heute Abend im Rahmen einer Feier zum 75-jährigen Bestehen des Exilarchivs eröffnet wird. Mehr als 500 000 Menschen flohen in der Zeit von 1933 bis 1945 aus dem damaligen Machtbereich der nationalsozialistischen Diktatur ins Exil. Sie mussten geliebte Menschen und ihr bisheriges Leben zurücklassen und sich mit dem wenigen, was sie in einem Koffer tragen konnten, in einem fremden Land, dessen Sprache sie oft nicht sprachen, eine neue Existenz aufbauen. Das Deutsche Exilarchiv, in der frühen Nachkriegszeit von Exilierten selbst mitinitiiert, sammelt seit 75 Jahren Zeugnisse des Exils: Publikationen, institutionelle und persönliche Nachlässe, berufsübergreifend und unabhängig von der Prominenz einer Person. Insgesamt knapp 49,7 Millionen Bücher, Zeitungen und Zeitschriften, Noten und Musik, Karten sowie Archivalien in physischer wie in digitaler Form befinden sich derzeit in der Sammlung. Und der Bestand wächst immer noch weiter, wie Sylvia Asmus, seit 2011 Leiterin des Deutschen Exilarchivs, sagt. Nachfahren von Benno und Amalie Uhlfelder beispielsweise, die ins argentinische Buenos Aires flohen, überließen dem Archiv das wohlgehütete Familienbesteck, das sie dorthin mitgenommen hatten. Ein Couvert ist in der Schau zu sehen. Mit deren Neugestaltung und Erweiterung der Dauerausstellung, so Sylvia Asmus, werde den Besucher:innen ein emotionaler Zugang zum Thema Exil eröffnet. Gleich zu Beginn werden sie eingeladen, in einem von zwei Bahnabteilen Platz zu nehmen. Mittels einer Collage aus Sound, Video und Licht können sie dort in die Geschichte des von den Nationalsozialisten verfolgten jüdischen Kaufmanns Otto Silbermann eintauchen und miterleben, was es heißt, auf der Flucht zu sein. Sammlung und Termine Das Deutsche Exilarchiv 1933–1945 der Deutschen Nationalbibliothek ist ein Ort der Auseinandersetzung mit den Themen Exil und Emigration während der Zeit des Nationalsozialismus. Etwa 500 000 Menschen flohen von 1933 bis 1945 aus dem damaligen Machtbereich der nationalsozialistischen Diktatur ins Exil. Der Bestand des Deutschen Exilarchivs umfasst derzeit insgesamt knapp 49,7 Millionen Bücher, Zeitungen und Zeitschriften, Noten und Musik, Karten sowie Archivalien in physischer wie in digitaler Form. Das Deutsche Exilarchiv ist damit nach eigenen Angaben die größte Bibliothek in Deutschland. Die neu gestaltete Dauerausstellung „Exil. Erfahrung und Zeugnis“ des Deutschen Exilarchivs in der Deutschen Nationalbibliothek, Adickesallee 1, ist montags bis freitags jeweils von 9 bis 21.30 Uhr, samstags von 10 bis 17.30 Uhr geöffnet. Der Eintritt ist frei. Im Dezember werden zwei kostenlose Führungen durch die Dauerausstellung angeboten. In der Reihe „Geschichte(n) am Mittag“ lädt das Deutsche Exilarchiv für Donnerstag, 12. Dezember, 13 Uhr, zu einer 15-Minuten-Führung in der Mittagspause ein. Unter dem Titel „Hingeschaut“ beleuchtet am Mittwoch, 18. Dezember, eine 45-minütige Führung von 17.30 Uhr an einzelne Facetten der neu gestalteten Ausstellung. Treffpunkt ist jeweils die Rotunde der Nationalbibliothek. Eine Anmeldung ist für beide Angebote nicht notwendig. lad www.dnb.de/exil Die 30-minütige Inszenierung „Der Reisende“ des Theaterkollektivs „Auricle“ basiert auf dem gleichnamigen Roman von Ulrich Alexander Boschwitz, der 1935 erst nach Schweden, dann nach Großbritannien flüchtete und dort bei Kriegsausbruch als „feindlicher Ausländer“ interniert und nach Australien gebracht wurde. Das Typoskript des Romans, der erst 2018 auf Deutsch erschien, befindet sich in der Sammlung des Deutschen Exilarchivs. „Es lohnt sich, ihn zu lesen“, sagt Sylvia Asmus. Die Dauerausstellung ist auch um bewegende Exponate von Kindern erweitert worden, die mit Kindertransporten ins rettende Ausland gebracht wurden: beispielsweise die Puppe der Frankfurterin Renate Adler, die nach Großbritannien kam. Anders als ihrem Vater gelang ihrer Mutter nicht mehr die Ausreise. Sie wurde 1942 deportiert und im Vernichtungslager Sobibor ermordet. Gegenwärtige Exilerfahrungen thematisiert eine interaktive Installation des deutsch-israelischen Künstlerduos Yael Reuveny und Clemens Walter. Unter dem Titel „Was bleibt“ spiegeln die Künstlerin und der Künstler in ihrer Komposition aus Bildern und Klängen die Erinnerungen von Menschen, die in ihrer Heimat verfolgt wurden. Eine davon ist Shole Pakravan, eine Aktivistin gegen die Todesstrafe, deren Tochter Reyhaneh mit 26 Jahren im Iran hingerichtet wurde, weil sie ihrem Vergewaltiger im Abwehrkampf einen tödlichen Messerstich versetzt hatte. Welche Auswirkungen die Erfahrung des Exils auf nachfolgende Generationen hatte, zeigen zum Abschluss der Ausstellung großformatige Videointerviews, beispielsweise mit dem Psychologen und Schriftsteller Frido Mann, Enkel von Thomas Mann, und Konstanza Prinzessin zu Löwenstein. Die Politologin ist Tochter des Juristen und Gegners der Nationalsozialisten Hubertus Prinz zu Löwenstein. Ihr Rat an die jüngere Generation, damit sich die Vergangenheit nicht wiederhole: „Informiert euch und engagiert euch!“