Sunday, March 10, 2024

Wie Deutschland in die Wiederholung des Russland-Desasters stolpert

WELT Wie Deutschland in die Wiederholung des Russland-Desasters stolpert von Gregor Schwung • 23 Std. • 5 Minuten Lesezeit Wegen der Kriegsgefahr zwischen China und Taiwan wurde der deutschen Wirtschaft „De-Risking“ geraten. Doch aktuelle Zahlen zeigen, dass sie die Empfehlung ignoriert. Im Ernstfall droht ein Einbruch, der weit schmerzhafter wäre als im Fall Russlands. Und die Politik tut wenig bis nichts. In Chinas Hauptstadt Peking trägt sich derzeit ein bekanntes Schauspiel zu: Einmal im Jahr trommelt die Kommunistische Partei mehr als 3000 Delegierte aus allen Teilen der riesigen Volksrepublik zusammen, um einen parlamentarischen Gesetzgebungsprozess zu simulieren – die Sitzung des Nationalen Volkskongresses. Für Präsident Xi Jinping ist das ein wichtiges Ereignis. Öffentlichkeitswirksam kann er den brav applaudierenden Kadern der Partei seine Pläne darlegen. Die erwarten einen Fingerzeig, wie die Wirtschaft aus ihrem Tief herauszuholen ist. Ähnlich gebannt wie auf den rot gepolsterten Stühlen in der Halle des Volkes wird man in den Besprechungsräumen der Vorstandsetagen deutscher Großkonzerne lauschen, wenn die Führung in Peking ihre Agenda ausbreitet. Denn dort besteht weiterhin großes Interesse an Geschäften mit dem Reich der Mitte. F Dass die Bundesregierung ihnen eigentlich das Gebot des „De-Risking“ auferlegt hat, wird geflissentlich ignoriert: Die Handels- und Investitionszahlen befinden sich weiter auf rekordverdächtiger Höhe – ganz so, als ginge keinerlei Kriegsgefahr von Peking aus. Aus der Politik selbst kommen wenig Signale, die Loslösung von Peking voranzutreiben. Dass China eines Tages Taiwan angreifen könnte, scheint so fern der Vorstellungskraft, wie es für viele vor dem 24. Februar 2022 der russische Angriff auf die Ukraine war. Findet kein Umdenken statt, steuert Deutschland auf die Wiederholung des Desasters zu, das auf den Abbruch der Beziehungen zu Russland folgte. Die Folgen wären wirtschaftlich ungleich härter. Die staatliche chinesische Nachrichtenagentur Xinhua konnte ihre Freude über die neusten Wirtschaftsdaten, die das Statistische Bundesamt im Februar veröffentlichte, nicht verbergen. „Deutsche Unternehmen ignorieren Predigt vom ‚De-Risking‘“, jubelte der deutschsprachige Dienst in der vergangenen Woche. Tatsächlich war China 2023 mit einem Handelsvolumen von 253 Milliarden Euro wieder einmal Deutschlands größter Handelspartner – zum achten Mal in Folge. Die Direktinvestitionen deutscher Firmen im Reich der Mitte haben mit 11,9 Milliarden Euro im vergangenen Jahr sogar ein Rekordhoch erreicht. Von 2021 bis 2023 wurde damit soviel in China investiert wie in den sechs Jahren von 2015 bis 2020 zusammen. Das ergibt sich aus den aktuellen Zahlen der Deutschen Bundesbank. Nicht nur absolut stieg damit das China-Engagement, auch relativ vertieften die deutschen Firmen ihre Aktivitäten in dem Land. Der Anteil der Volksrepublik an den weltweiten Direktinvestitionen deutscher Unternehmen stieg auf 10,3 Prozent und damit auf den höchsten Stand seit 2014. Werte, die weiter zunehmen können. In Peking gab Premierminister Li Qiang am Dienstag das Ziel von fünf Prozent Wirtschaftswachstum für dieses Jahr aus. Für deutsche Firmen eine verlockende Perspektive, soll doch die heimische Wirtschaft nur um 0,7 Prozent wachsen. China spricht Taiwan Eigenständigkeit ab Seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine ist jedoch klar, dass Diktatoren, die lautstark von imperialistischen Eroberungsfeldzügen träumen, beim Wort zu nehmen sind. Lange vor seinem Marsch auf Kiew legte Wladimir Putin die ideologische Grundlage für seinen Krieg gegen die Ukraine. Er sprach von „einer Nation“, der Ukraine als „künstlicher Kreation“ und Russlands „alter Größe“. Ähnlich unverblümt und offensichtlich spricht China schon seit Jahren dem demokratischen Taiwan seine Eigenständigkeit ab. Im Jahr 2027 feiert die kommunistische Volksbefreiungsarmee ihren 100. Geburtstag. Es ist das Datum, das Xi Jinping fest im Blick hat und zu dem die Streitkräfte vollständig modernisiert sein sollen. In Taiwan halten Verteidigungsexperten einen Angriff spätestens dann für wahrscheinlich. Die Bundesregierung hatte dieses Szenario im Auge, als sie im Juli vergangenen Jahres ihre China-Strategie veröffentlichte. Das Land sei nicht mehr nur Partner, rang sich die Ampel-Koalition festzustellen nach monatelangem Streit durch. Stattdessen sei Peking Wettbewerber und „systemischer Rivale“, so das Papier. Deshalb sei „De-Risking“ geboten – die Reduzierung des strategischen Risikos. Damit hat Berlin den Kurs eingeschlagen, auf dem sich die USA schon lange befinden. Seit der Präsidentschaft von Donald Trump hat die Unabhängigkeit der amerikanischen Wirtschaft in Washington Priorität. Joe Biden führt diese Politik nicht weniger konfrontativ fort. Der 2022 verabschiedete „Chips Act“ soll die amerikanische Produktion von Computerchips schützen und dafür sorgen, dass China nicht in den Besitz relevanter Technologie kommt. Handelsbeschränkungen sollen die Lieferketten von US-Firmen vor den Auswirkungen eines Kriegs gegen Taiwan immunisieren. Rhetorisch nimmt Biden kein Blatt vor den Mund und nennt Xi einen Diktator. Große Firmen halten weiter an China fest In Deutschland hat sich die China-Strategie allerdings noch nicht wirklich im Alltag niedergeschlagen. Zwar haben die Mittelständler nach den Beschränkungen der Investitionsgarantien ihr Geschäft in dem Land deutlich zurückgefahren, und die Importabhängigkeit von chinesischen Waren hat sich etwas reduziert, aber die großen Unternehmen halten weiter an der Volksrepublik fest und steigern ihr Engagement sogar noch. Der Chemie-Konzern BASF investierte 2022 erst zehn Milliarden Euro, mit der Begründung, dass „bis 2030 zwei Drittel des Wachstums in der Chemie in China“ zu erwarten seien. Auch die Autobauer setzen weiter auf das Reich der Mitte. In Industriekreisen gesteht man ein, dass viele Firmen die Risiken eines Taiwan-Krieges kennen, sie aber gegen kurzfristige Gewinnchancen abwägen. Im besten Falle würden sie ihre Produktion vor Ort verstärken, um im Notfall für den chinesischen Markt weiterproduzieren zu können, was aber die Gesamtabhängigkeit vom Land keineswegs verringert. Im Ernstfall hätte das für Deutschlands Wirtschaft verheerende Folgen. Schon der Zusammenbruch des Russland-Geschäfts hat die Bundesrepublik in eine schwere Energiekrise gestürzt, Firmen mussten ihre Produktionsstätten mit großen Abschlägen verkaufen, wofür etwa Siemens und die Volkswagenbank nun Milliarden-Entschädigungen beim Steuerzahler geltend machen wollen. Dass ein chinesischer Angriff auf Taiwan einen vielfach größeren Schaden anrichten würde, ist bekannt. „Jedes Unternehmen muss jetzt prüfen, wie hart es getroffen wäre, wenn China analog wie Russland sanktioniert würde“, sagt Frank Müller-Rosentritt im Gespräch mit WELT AM SONNTAG. Der China-Experte der FDP fordert, dass Firmen ihr China-Geschäft soweit diversifizieren, „dass sie einen Ausfall der Volksrepublik im Kriegsfall verkraften können“. Warnungen, die verhallen. Auch, weil die Politik nicht den Eindruck großer Dringlichkeit vermittelt. So verliert sich die Ampel-Koalition derzeit im Streit um den Ausbau von Bauteilen der chinesischen Hersteller Huawei und ZTE in deutscher IT-Infrastruktur. Das Innenministerium fürchtet, dass diese ein Einfallstor für politisch motivierte Sabotage, Spionage oder Datenklau Chinas sein könnten. In einem ungewöhnlichen Schritt warnte jüngst Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg Berlin vor einem Herauszögern der Entscheidung – bislang ohne Konsequenzen. Wenn Bundeskanzler Olaf Scholz im April nach Peking reist, werden im Regierungsflieger wieder zahlreiche Wirtschaftsbosse deutscher Unternehmen Platz nehmen. Das Signal, dass das Kanzleramt ihnen mit der Einladung zu dieser Reise gegeben hat, ist unmissverständlich: „Weiter so.“