Sunday, March 3, 2024

Naiv, fahrlässig, führungslos? In der Abhöraffäre steigt der Druck auf Bundeskanzler Olaf Scholz – auch aus der Regierungskoalition

Neue Zürcher Zeitung Deutschland Naiv, fahrlässig, führungslos? In der Abhöraffäre steigt der Druck auf Bundeskanzler Olaf Scholz – auch aus der Regierungskoalition von Alexander Kissler, Berlin • 2 Std. Bei ihnen besteht Rede- und Erklärungsbedarf: Bundeskanzler Olaf Scholz (links) und Verteidigungsminister Boris Pistorius. Florian Gaertner / Imago Der deutsche Bundeskanzler weilte in Italien, als sich der Sturm zusammenbraute. Zwischen Begegnungen mit Staatspräsident Sergio Mattarella und Papst Franziskus erreichte Olaf Scholz und die Weltöffentlichkeit am Wochenende eine Nachricht, die an Brisanz kaum zu überschätzen ist. Russland war es gelungen, ein Gespräch hochrangiger Offiziere der Luftwaffe über Strategien und Einsatzmittel im Ukraine-Krieg aufzuzeichnen. Der Mitschnitt wurde auf digitalen Plattformen veröffentlicht. Der Inhalt des Gesagten, aber auch der Umstand, dass sich die Deutschen von russischer Seite abhören liessen, setzen den Kanzler erheblich unter Druck. Auch Verteidigungsminister Boris Pistorius muss sich Nachfragen gefallen lassen. In mehrfacher Weise blamiert Oft hat Scholz bekräftigt: Die Deutschen unterstützten die von Russland überfallene Ukraine nach den Vereinigten Staaten am meisten. Insgesamt belaufe sich die Summe aus geleisteten und zugesagten Mitteln auf 28 Milliarden Euro. Es gebe keinen Anlass, der Ukraine den von ihr geforderten Taurus-Marschflugkörper zur Verfügung zu stellen. Dieser habe nämlich das Potenzial, Ziele sowohl in Russland als auch in Deutschland zu erreichen, und könne nur von der Bundeswehr bedient werden. Im Mitschnitt aber diskutieren die Offiziere über Wege, Ukrainer am Taurus auszubilden und mit diesem eine von Russland errichtete Brücke zur Halbinsel Krim ins Visier zu nehmen. Scholz steht in mehrfacher Weise blamiert da. Sein Nein zur Taurus-Lieferung könnte vorgeschoben sein, wenn Offiziere, darunter der Chef der Luftwaffe, Ingo Gerhartz, bereits über Einsatzmöglichkeiten beratschlagen. Oder aber sein Parteifreund Pistorius ermunterte ohne Rückendeckung des Kanzlers zu solchen Gedankenspielen. Das abgehörte Gespräch sollte vermutlich eine Unterrichtung des Verteidigungsministers vorbereiten. Schliesslich stellt sich die Frage, inwieweit der Beschuss der Brücke mit deutschen Waffen als direkte Kriegsbeteiligung gewertet würde. So deutet es, wenig überraschend, die Sprecherin des russischen Aussenministeriums, Maria Sacharowa: Das Gespräch belege «Planungen von Kampfhandlungen gegen Russland, einschliesslich der Zerstörung der zivilen Infrastruktur». Noch in Rom, nach der Privataudienz bei Franziskus, sprach Scholz von einer «sehr ernsten Angelegenheit», die nun «sehr sorgfältig, sehr intensiv und sehr zügig» aufgeklärt werde. Der Opposition reichen solche Ankündigungen nicht. Alexander Dobrindt, erster stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, fordert eine Erklärung des Kanzlers vor dem Bundestag. Auch könne, so Dobrindt im «Spiegel», ein Untersuchungsausschuss nicht ausgeschlossen werden. «Strafbewehrte Überlegungen»? Eine Sondersitzung des Verteidigungsausschusses bringt Rüdiger Lucassen ins Spiel, verteidigungspolitischer Sprecher der AfD-Fraktion und ehemals Oberst im Generalstab. Der Militärische Abschirmdienst (MAD), kritisiert Lucassen, habe «zu wiederholtem Mal versagt», die Bundesregierung bewege durch ihre «Fahrlässigkeit und Führungslosigkeit» Deutschland in Richtung Kriegspartei. Dietmar Bartsch von der Partei Die Linke nennt die abgehörten Überlegungen der Offiziere «eindeutig strafbewehrt» und fordert Konsequenzen. Auch sicherheitspolitisch verböten sie sich. Dass Geheimdienste Abhöraktionen starten, gehört zu ihrem Wesen. Dass Deutschland es den Russen derart leicht machte, wäre schon zu Friedenszeiten bedenklich und ist bei laufender kriegerischer Auseinandersetzung ein Debakel. Die Offiziere haben entgegen den Vorschriften unverschlüsselt kommuniziert, vermutlich über die Plattform Webex. Deren Sicherheitslücken sind bekannt. August Hanning, von 1998 bis 2005 Präsident des Bundesnachrichtendienstes, sagte dieser Zeitung: Leider herrsche in Deutschland und offenbar auch in Teilen der Bundeswehr eine «erstaunliche Naivität bei Telefonaten und im E-Mail-Verkehr». Er, Hanning, vermute, dass die Russen noch sehr viel mehr Material hätten «und wir zurzeit nur die Spitze des Eisbergs erleben». Weitere Veröffentlichungen würden folgen. Deren Ziel sei es offenkundig, Unfrieden und Misstrauen zwischen den Nato-Staaten zu streuen und Deutschland als zuverlässiges Mitgliedsland zu diskreditieren. Die Wehrbeauftragte sieht gravierende Lücken In der Regierungskoalition ist die Bereitschaft gering, Scholz und Pistorius beizuspringen. Der FDP-Politiker Marcus Faber, Mitglied im Verteidigungsausschuss, nennt die Zerstörung der Krimbrücke ein «legitimes Ziel, um dem Angriff des Kriegstreibers Einhalt zu gebieten». Die Ausbildung der Ukrainer am Taurus solle jetzt beginnen – also entgegen der bisherigen Position von Scholz. Die «Diskursverweigerung der letzten Monate» sei für die Entscheidungsfindung schädlich gewesen. Auch diese Einschätzung ist direkt auf den Kanzler gemünzt. Eva Högl, SPD-Mitglied und Wehrbeauftragte des Bundestags, sieht «gravierende Lücken bei Sicherheit und Geheimhaltung». Ausserdem, sagte Högl den Zeitungen der Funke-Mediengruppe, müssten «alle Verantwortlichen auf allen Ebenen der Bundeswehr» umfassend zu geschützter Kommunikation geschult werden. Der dem Verteidigungsministerium unterstellte Militärische Abschirmdienst brauche eine bessere finanzielle, personelle und materielle Ausstattung. Konstantin von Notz von den Grünen beklagt einen «für die Sicherheit Deutschlands und seiner Verbündeten zweifellos maximal gravierenden Vorgang». Er erwarte eine «umgehende und umfassende Aufklärung des Sachverhalts durch die Bundesregierung». Nur der SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich reiht sich beim Kanzler ein: Die Opposition habe das Recht, Untersuchungsausschüsse zu fordern. Nun aber gelte es, die «Ermittlungen und Erläuterungen der Staatsanwaltschaft, der Bundeswehr und der Dienste» abzuwarten. So unklar das Resultat dieser Untersuchung aber sein mag, so klar ist auch: Diese Debatte lässt sich auf dem üblichen Verfahrensweg nicht einhegen.