Monday, March 18, 2024
„Der deutsche Kulturbetrieb und Claudia Roth müssen sich dem Scheitern stellen“
WELT
Kevin Culina • 44 Mio. • 4 Minuten Lesezeit
Jetzt treffen Staatsministerin Claudia Roth (Grüne) auch Vorwürfe aus der Ampel-Koalition: Der Israelhass auf der Berlinale müsse ein Nachspiel haben, fordert SPD-Kulturpolitiker Helge Lindh. Die Naivität im Umgang mit Antisemiten im Kulturbetrieb müsse enden. Er hat einen konkreten Vorschlag.
Helge Lindh, 47, ist kulturpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion und sitzt für die Sozialdemokraten im Kulturausschuss des Bundestags.
WELT: Herr Lindh, wann wird Kunst zu Propaganda?
Helge Lindh: Wir haben eine zunehmend politisierte Kunst, eine Veränderung von ästhetischen Prozessen, bei denen etwa in Kollektiven gearbeitet wird. Es gibt den stärkeren Anspruch, damit die Gesellschaft zu verändern. Unter dem Deckmantel der Kunstfreiheit wird aber auch Aktivismus betrieben: Die Filmreihe „Tokyo Reels“ auf der Documenta in Kassel zeigte propalästinensische Propagandafilme aus den 1970ern. Ohne Einordnung, ohne Infragestellung. Das ist Agitation mit terroristischer Propaganda.
WELT: Die Documenta entfachte Diskussionen über Antisemitismus im Kulturbetrieb. Auf der Berlinale-Abschlussgala wurde Israel ein „Genozid“ in Gaza unterstellt. Wie haben Sie das wahrgenommen?
Lindh: Israel einen Genozid zu unterstellen, ist nicht hinnehmbar. Damit wird Israel mit dem Nationalsozialismus gleichgesetzt, der Begriff entstand in Bezug auf die Shoah. Dieser Täter-Opfer-Umkehr hätte widersprochen werden müssen. Ausgangspunkt des Krieges in Gaza war der bestialische Terror der Hamas vom 7. Oktober. Viele Geiseln sind bis heute verschleppt. Über beides wurde kein Wort verloren. Die kompromisslose Ächtung des Antisemitismus und die Benennung der humanitären Katastrophe in Gaza sind kein Widerspruch. Wir sollten uns gerade nicht auf das fatale Spiel der „Opferkonkurrenz“ einlassen. Viele Kulturschaffende, die sich als Anwälte der Unterdrückten darstellen, sind eher Anwälte ihrer selbst und somit anfällig für Selbstgerechtigkeit.
WELT: Woher kommt diese Einseitigkeit?
Lindh: In der Linken gibt es einen historisch tradierten, immer wieder neu auflebenden Antisemitismus. Das zeigte sich in der Studentenbewegung und der RAF, der Selektion bei der Flugzeugentführung nach Entebbe. Diese Phase hat Spuren im Kulturbetrieb hinterlassen – und verstärkt sich mit internationalen Entwicklungen.
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WELT: Welchen?
Lindh: Antisemitismus ist ein globales Phänomen, das sich im Kunstbetrieb zuspitzt. Im Globalen Süden gibt es eine manische Fixierung auf Israel als Feindbild. In diesem falsch verstandenen Postkolonialismus wird Israel als Projektionsfläche für die Aufarbeitung des Kolonialismus betrachtet. Israel wird zur weißen, kolonialen Macht erklärt, Palästina zum Opfer. Das blendet aus, dass der Zionismus als Emanzipation aus einer permanenten antisemitischen Verfolgung entstanden ist. Es ist richtig, dass die deutsche Kulturszene aus ihrer Engstirnigkeit raus und Teil des globalen Austauschs sein will.
WELT: International wird die israelfeindliche Kampagne „Boycott, Divestment, Sanctions“ (BDS) lauter. Sie sieht im Hamas-Terror vom 7. Oktober einen „schlagkräftigen bewaffneten Aufstand“.
Lindh: Bei aller internationaler Öffnung: Unsere Solidarität mit Israel zu verstecken, wäre Selbstmord aus Angst vor dem Tode. Dass israelische Künstler auch in Deutschland boykottiert werden sollen, ist unerträglich. Wir erleben das beim Pop-Kultur-Festival in Berlin immer wieder, weil israelische Künstler dort einen Reisekostenzuschuss der israelischen Botschaft erhalten – und andere Musiker deshalb unter Druck gesetzt werden. Wir müssen die Betroffenen unterstützen.
WELT: Wie?
Lindh: Durch Förderprogramme für jüdische und israelische Künstler, in aller Vielfalt politischer Positionen. Zudem findet schon jetzt häufig ein nicht-sichtbarer Boykott statt, wenn Israelis nicht in Leitungspositionen berufen werden. Wir müssen durch Schulungen in Jurys und Findungskommissionen hineinwirken. Zudem kann niemand eingeladen werden, der einschlägig bekannt für seinen Israelhass ist – auch nicht, um über Klimagerechtigkeit zu sprechen. Man stelle sich vor, der Rechtsextremist Martin Sellner wäre Experte für kommunale Selbstverwaltung. Niemand käme auf die Idee, ihn deshalb einzuladen.
WELT: Ab wann ist jemand denn „einschlägig bekannt“?
Lindh: Wer sich auf Social Media oder in Kunstwerken klar antisemitisch oder rassistisch äußert. Es geht nicht um einen Gesinnungscheck – dass wir jeden durchprüfen müssen, ist nicht wünschenswert. Der Blick muss auf die Einrichtungen gehen: Wenn da mal jemand auftritt, der einen BDS-Aufruf unterzeichnet hat, müssen wir das in einer Demokratie hinnehmen. Wenn dort aber keine jüdischen, antisemitismuskritischen Stimmen vorkommen, wird es ein Problem und bedarf es bei öffentlicher Förderung Konsequenzen.
WELT: Fördergelder der Documenta sollten zurückverlangt werden?
Lindh: Es wäre konsequent, wenn alle öffentlichen Mittel nach diesem dramatischen Managementversagen zurückgezahlt werden müssten. Ich weiß nur nicht, wer das ganz praktisch zahlen soll. Wir pochen in der Filmförderung auf Diversität, also müssen Förderrichtlinien auch Antisemitismus oder Rassismus ausschließen.
WELT: Berlins Kultursenator Joe Chialo (CDU) arbeitet an einer Diskriminierungsklausel, Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) und die Kultusministerkonferenz wollen Förderbedingungen überarbeiten.
Lindh: Eine reine Bekenntnisabfrage- oder Gesinnungstestpolitik wird das Problem nicht lösen und ist rechtlich wohl nicht zu halten. Es kommt auf die konkrete Ausgestaltung an.
WELT: Welche Verantwortung trägt Roth? In ihre Amtszeit fallen Documenta und Berlinale.
Lindh: Der deutsche Kulturbetrieb und Claudia Roth müssen sich dem Scheitern stellen. Das betrifft auch Verantwortliche in Hessen und Berlin. Es gab Warnsignale vor der Documenta. Auch nach dem 7. Oktober und vor der Berlinale war klar, dass es auf der Bühne zu israelfeindlichen Aktionen kommen kann. Das wurde nicht ernst genommen. In Zukunft müssen wir auf solche Situationen vorbereitet sein.
WELT: Angehörige israelischer Geiseln haben Roth offenbar vor der Berlinale darum gebeten, Videos vom 7. Oktober zu zeigen und ein Zeichen zu setzen. Sie sind enttäuscht über die Absage.
Lindh: Die Enttäuschung kann ich verstehen. Die Situation der Geiseln hätte nicht ausgeblendet werden dürfen. Zugleich ist es nicht die Aufgabe der politischen Ebene, für die genaue Ausgestaltung des Programms zu sorgen.
WELT: Welche Konsequenzen aus der Berlinale erwarten Sie?
Lindh: Die Berlinale darf keinen Safe Space für Antisemitismus bieten. Das ist die politische Erwartung an ein öffentlich gefördertes Festival. Derzeit finden Gespräche mit der jetzigen und der künftigen Leitung statt, die wir ausweiten müssen. Das Festivalprogramm muss eine Pluralität an Positionen haben. Die Gremien und Jurys müssen geschult werden, was Antisemitismus ist, wie er funktioniert – und wie wir ihn bekämpfen.
WELT: Wie soll diese Aufarbeitung starten?
Lindh: Wir brauchen einen Konvent, bei dem endlich Tacheles gesprochen wird. Diese Naivität im Umgang mit Israelfeinden dürfen wir uns nicht mehr erlauben. Sonst hecheln wir von Empörung zu Empörung. Der Bund muss die großen Kulturinstitutionen an einen Tisch bringen, damit wir aus den verfestigten, informellen Netzwerken ausbrechen. Die Institutionen müssen aber auch mitmachen.