Wednesday, March 6, 2024

Analyse zur Hassspirale - Warum Grünen-Wähler trotz Protesten so überzeugt von ihrer Partei sind

FOCUS online Analyse zur Hassspirale - Warum Grünen-Wähler trotz Protesten so überzeugt von ihrer Partei sind Von FOCUS-online-Redakteurin Anna Schmid • 19 Std. Wahrscheinlich schlägt aktuell keiner Partei so viel Hass entgegen wie den Grünen. Trotzdem treten historisch viele Menschen in die Klimapartei ein. Die Umfragewerte sind - anders als bei FDP und SPD - stabil. Wie passt das zusammen? Ein 57-Jähriger beleidigt einen 20 Jahre jüngeren Mann aufs Übelste, dann schlägt er ihm ins Gesicht. Der Hieb ist so heftig, dass das Opfer ein blaues Auge davonträgt. Inzwischen ermittelt die Polizei. Was klingt wie eine gewöhnliche Prügelei, sorgt bundesweit für Schlagzeilen. Denn der jüngere Mann ist Gemeinderatskandidat der Grünen im baden-württembergischen Amtzell. Nur wenige Tage vor dem Vorfall wurde bekannt, dass er sich zur Wahl stellt. Die Polizei geht davon aus, dass die Tat einen politischen Hintergrund hat. Es würde ins Bild passen. Schließlich kam es zuletzt immer wieder zu Anfeindungen und meist verbaler Gewalt gegen Grünen-Mitglieder. Robert Habeck konnte im Januar eine Fähre nicht verlassen, weil ein wütender Mob ihn daran hinderte. Ricarda Lang wurde in Magdeburg von aufgeregten Bauern empfangen. Und im Raum Bamberg musste ein Grünen-Treffen wegen Sicherheitsbedenken abgebrochen werden. Grüne: „Stärkster Jahresstart unserer Geschichte“ Eigentlich haben die Grünen gerade wenig zu lachen, müsste man meinen. Sie stehen im Fadenkreuz. Ihre Mitglieder waren 2023 so oft Opfer von Übergriffen wie Angehörige keiner anderen Partei, das zeigen vorläufige Zahlen der Bundesregierung. Trotzdem sind seit Anfang 2023 rund 8000 Menschen neu in die Partei eingetreten - so viele wie noch nie zum Jahresbeginn. „Wir erleben mit diesem Januar und Februar den stärksten Jahresstart unserer Geschichte“, sagte Emily Büning, Politische Bundesgeschäftsführerin der Grünen, vor einigen Tagen. Ihrer Ansicht nach zeigt der Zuwachs, dass sich zahlreiche Bürger demokratisch engagieren wollen. Dass sie rechtsextremen Kräften etwas entgegensetzen wollen. Nur: Warum treten sie ausgerechnet in eine Partei ein, deren Mitglieder so sehr angefeindet werden? Grüne haben Anzahl ihrer Mitglieder fast verdreifacht Marcel Lewandowsky glaubt: Die Grünen sind zwar in einigen Bevölkerungsgruppen unbeliebt. Es gibt aber auch Menschen, die sich gerade in Zeiten zunehmender Polarisierung mit dieser Partei identifizieren können. „Für die einen sind die Grünen ein Feindbild. Für andere sind sie zum Beispiel ein Stabilitätsgarant in der Regierung oder durch ihre Positionen in Umwelt- oder Friedensfragen attraktiv“, sagt der Politologe im Gespräch mit FOCUS online. Solche Sympathien können in seinen Augen Gründe sein, in die Partei einzutreten. Genauso kann der Unmut, mit dem sich die Grünen konfrontiert sehen, diesen Effekt haben. Ganz nach dem Motto: Jetzt erst recht. Eigenen Angaben zufolge kommen die Grünen inzwischen auf mehr als 130.000 Mitglieder. 2004 waren es noch rund 45.000, wie Daten, die Statista aufbereitet hat, zeigen. In den vergangenen zehn Jahren hat die Partei die Zahl ihrer Anhänger also fast verdreifacht. Grüne sind in Umfragen stabil Erstaunlich ist aber nicht nur der Blick auf die Mitgliederzahlen, sondern auch auf die Umfragewerte der Grünen. Sie sind verhältnismäßig stabil. Wenn nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre, würde die Partei auf 13 bis 15 Prozent der Stimmen kommen. Damit liegt sie fast genau auf dem Niveau der Bundestagswahl 2021, als 14,8 Prozent der Wähler ihr Kreuz bei den Grünen machten. Die Zahlen verwundern. Schließlich glauben sogar die Grünen selbst, dass der Hass, der ihnen gerade entgegenschlägt, mit ihrer Rolle in der Bundesregierung zusammenhängt. Tim-Luca Rosenheimer, Grünen-Vorsitzender im Kreis Bamberg Land, sagte im FOCUS-online-Interview, viele Parteimitglieder würden sich wie „Blitzableiter“ fühlen. Klar ist: Die Ampel-Koalition hat Fehler gemacht, etwa beim umstrittenen Gebäudeenergiegesetz oder der dann doch gestoppten Gasumlage. Sie ist bei der Bevölkerung unbeliebt. In einer Insa-Umfrage Mitte Januar gaben 76 Prozent der Befragten an, mit der Arbeit der Bundesregierung unzufrieden zu sein. Ampel ist unbeliebt - SPD und FDP stürzen ab In vielen Analysen war zu lesen, dass die Grünen für Veränderung stehen wie kaum eine andere größere Partei. Und dass sie deswegen den geballten Ampel-Frust abbekommen. Das mag auf der Straße zu sehen sein. In Umfragen nicht. Es sind FDP und SPD, die seit der Bundestagswahl 2021 abgestürzt sind. Die Liberalen liegen in aktuellen Erhebungen nur noch bei fünf statt 11,4 Prozent, die Sozialdemokraten bei 15 statt 25,7. Die Grünen dagegen halten ihr Niveau von der Bundestagswahl 2021. Das liegt an ihrer „treuen Kernwählerschaft“, sagt Forsa-Chef Manfred Güllner im Gespräch mit FOCUS online. Menschen, die ihr Kreuz bei der Grünen machen, bilden ihm zufolge eine „homogene Wertegemeinschaft“. Sie gehören eher zu den oberen Bildungs- und Einkommensschichten, sind nicht in materieller Not. Grünen-Wähler orientieren sich weniger an traditionellen Werten wie Arbeit und Beruf, Leistung oder Aufstieg, sondern an einem Konzentrat sogenannter „postmaterialistischer“ Werte wie Umwelt oder Frieden. „Kritik schweißt sie eher zusammen, als dass es sie zu anderen Parteien treibt.“ Werden Parteimitglieder angefeindet oder sogar körperlich angegangen, ist das für Grünen-Wähler oft ein Grund mehr, zu bleiben. „Sie lassen sich davon nicht beeindrucken. Sie fühlen sich eher selbst als angegriffene Gruppe“, sagt Güllner. Grüne haben ihre Hochburgen im urbanen Raum Die Grünen inszenieren sich als progressive Partei. Sie setzen sich für Klima- und Tierschutz ein, stehen für eine humanitäre Migrations- und Flüchtlingspolitik, sind feministisch ausgerichtet. „Ökologie, Soziales, Demokratie und Europa – lass uns gemeinsam die Zukunft anpacken“, ist auf ihrer Webseite beim Unterpunkt „Wofür wir kämpfen“ zu lesen. Als Teil der Ampel-Koalition sind allerdings viele grüne Überzeugungen auf der Strecke geblieben. Zum Beispiel bei der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS), die die Grünen mittrugen, obwohl die Regeln für Asyl und Migration damit restriktiver werden. Oder bei den selbstgesteckten Klimazielen. Die Grünen stimmten unter anderem dem beschleunigten Autobahnbau zu. Diese Abstriche scheinen ihre Anhänger nicht zu stören. „Themen spielen bei ihnen nicht so eine große Rolle, auch das Personal nicht. Man könnte fast sagen: Kritik an der Partei und ihre Wählerschaft sind voneinander entkoppelt“, meint Güllner. Grüne werden auch aus Lifestyle-Gründen gewählt Interessant ist auch, was die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) in einem Beitrag zur Wählerschaft der Grünen schreibt. Demnach versteht sich „ein überraschend hoher Anteil“ ihrer Wähler als unpolitisch und gibt der Partei aus Lifestyle-Gründen seine Stimme. Grünen-Wähler sind - alles in allem - „privilegiert“, findet Güllner. Den Wandel zur Volkspartei haben die Grünen in seinen Augen nie geschafft. „Der neue, pragmatischere Politikstil von Habeck und Baerbock hatte zu Beginn des Wahlkampfes 2021 und auch nach Bildung der Ampel-Regierung die grünen Umfragewerte zeitweise bis über 25 Prozent ansteigen lassen“, sagt er. „Doch nach solchen Höhenflügen sind die Grünen wieder auf ihre Kernwählerschaft heruntergeschmolzen.“ „Die Grünen sind wieder auf ihre Kernwählerschaft heruntergeschmolzen“ Es ist dieser harte Kern, der offenbar - komme, was wolle - hinter der Partei steht. Und das, obwohl oder gerade weil die Grünen angefeindet und kritisiert werden. Allerdings: Dass es überhaupt zu derartigen Ausschreitungen und sogar körperlicher Gewalt kommt, besorgt Güllner. „Wir sehen da eine Tendenz der Gesellschaft, die uns alle betrifft. Die Dialogbereitschaft schwindet, die Leute dreschen buchstäblich aufeinander ein.“ Die sozialen Netzwerke, über die Nutzer inkognito die schlimmsten Beleidigungen verbreiten können, befeuern diese Entwicklung seiner Ansicht nach nur. „Jeder kann anonym schimpfen und hetzen. Eine schreckliche Kultur ist entstanden.“ Im baden-württembergischen Amtzell, wo ein grüner Gemeinderatskandidat zusammengeschlagen wurde, ermittelt laut einem Bericht von „schwäbische.de“ inzwischen auch der Staatsschutz.