Sunday, May 1, 2022
Russische Invasion: "Befehle gehen verloren, werden schlampig oder gar nicht umgesetzt"
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Russische Invasion: "Befehle gehen verloren, werden schlampig oder gar nicht umgesetzt"
Hauke Friederichs - Vor 6 Std.
Logistikfehler, Korruption, Führungschaos: Putins Krieg sei dilettantisch geführt, sagt Militärökonom Marcus Keupp. Vieles erinnere an die Afghanistan-Invasion von 1979.
Warum ist Russland mit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine nicht erfolgreich? Das habe viel damit zu tun, dass Korruption bereits seit der Zarenzeit in russischen Streitkräften weit verbreitet ist, sagt Marcus Matthias Keupp, der die Abteilung für Militärökonomie an der Militärakademie der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich leitet. Zudem hätten die Streitkräfte außer der sowjetischen Afghanistan-Invasion seit 1945 keinen großen Krieg mehr geführt. Am Hindukusch ging die Sowjetführung von einem schnellen Schlag aus – genauso wie Putin heute in der Ukraine. Ein Gespräch über die Ursachen und Folgen der russischen Kriegsführung in der Ukraine.
ZEIT ONLINE: Herr Keupp, Sie arbeiten an der Militärakademie der ETH Zürich, an der Offiziere der Schweiz ausgebildet werden. Was glauben sie, was Militärs im Westen vom Krieg in der Ukraine lernen können?
Marcus Matthias Keupp: Aus dem russischen Versagen lässt sich lernen, was man anders machen muss, um erfolgreich zu sein. Diese Kriegsführung taugt nur als Negativbeispiel. Vor allem sehen wir, wie wichtig es ist, dass man einheitliche Kommandostrukturen und klare Befehlsketten von ganz oben bis nach ganz unten hat. Wer diesen Konflikt studiert, lernt zudem viel über Logistik. Mit jedem Tag, den der Krieg dauert, wird der Nachschub wichtiger. Die Russen haben hier große Probleme. Selbst ein großer, starker Kampfpanzer nützt nichts, wenn er ohne Treibstoff stehen bleibt oder im schlammigen ukrainischen Boden die Reifen abreißen und es keine Ersatzteile gibt.
ZEIT ONLINE: Warum fällt es der russischen Armee so schwer, die von Wladimir Putin vorgegebenen Ziele zu erreichen?
Keupp: Mit Ausnahme der sowjetischen Invasion in Afghanistan haben die russischen Streitkräfte seit 1945 keinen großen konventionellen Krieg mehr geführt. Sie waren gewohnt, in überschaubaren Operationen schnell Erfolge zu erzielen. So etwas war auch für die Ukraine geplant, die Vorlage sollte dafür der Krieg in Georgien 2008 sein. Das funktioniert nun nicht und die russische Führung steht ohne Alternative da. Sie ist gezwungen, zu improvisieren, das sieht man an den vorgegebenen Kriegszielen.
Erst spricht Putin der Ukraine ihre Existenzberechtigung ab, das sei kein Staat, drogensüchtige Nazis hätten sich sowjetisches Territorium angeeignet. Dann verkündet er die Entnazifizierung der Ukraine, schließlich behauptet er, es gehe um die Befreiung des Donbass, danach darum, Volksrepubliken zu errichten und nun will er angeblich auch noch die armen Brüder in Transnistrien befreien. Das folgt alles nicht wirklich einer strategischen Überlegung. Putin zeigt eine dilettantische Improvisation.
ZEIT ONLINE: Aber nicht nur die politische Führung, auch die Militärs versagen.
Keupp: Erst seit Kurzem besteht überhaupt ein zentrales Kommando für den Krieg. Vorher gab es das, was man in vielen Kriegen der russischen Geschichte sehen konnte, einerseits die Konkurrenz zwischen Generälen, die ihr Vorgehen nicht abstimmen, ihre Kräfte nicht verbinden oder versuchen, eine gemeinsame Operationsführung zu erreichen. Jeder kämpft für sich allein, was die anderen machen, ist ihm egal. Bislang agiert die militärische Führung einfach stümperhaft. Das neue Oberkommando soll dieses Durcheinander beenden. Aber es gibt in der russischen Armee eine fatale Tendenz, dass Befehle nicht umgesetzt werden.
»Viel Geld versickert immer noch auf dem Weg vom Verteidigungsministerium zu den Kampftruppen.«
Marcus Matthias Keupp
ZEIT ONLINE: Sollte es in der hierarchischen Welt des Militärs nicht eigentlich selbstverständlich sein, dass Befehle befolgt werden?
Keupp: In der russischen Armee nicht. Dort gibt es mehrere Gründe, warum Befehle vom General nicht den einfachen Soldaten erreichen. Es gibt sogar russische Spezialbegriffe für diese Probleme. Nje-ispolnitel’nost bedeutet "Nichtausführung", Befehle gehen verloren, werden schlampig oder gar nicht umgesetzt, weil sie den wirtschaftlichen oder politischen Interessen des Ausführenden entgegenlaufen. Chalatnost, wörtlich übersetzt "im Gewand sein" heißt, jemand sitzt verträumt in seiner Robe und hat keinen Anreiz, schwere Arbeit zu verrichten, weil sie einem persönlich nichts einbringt. Dazu kommt noch die weitverbreitete Korruption.
ZEIT ONLINE: Ist das ein fatales Erbe der Roten Armee?
Video: "Wenn Ashraf so anfängt..." (Kabel1)
Keupp: Nein. Sie können weiter zurückschauen in die Geschichte, etwa den russisch-japanischen Krieg von 1904 betrachten, und stoßen bereits auf ähnliche Probleme. Korruption ist bei den russischen Landstreitkräften weit verbreitet. Im Heer gibt es das Sprichwort, die eine Währung ist der Rubel, die andere der Treibstoff. Was sehr häufig vorkommt, ist Diebstahl von Benzin, Soldaten zweigen es aus Depots ab oder saugen ihn aus den Tanks ihrer Fahrzeuge, dann verkaufen sie ihn auf dem Schwarzmarkt. Das machen nicht irgendwelche Kriminellen, sondern die Soldaten selbst.
ZEIT ONLINE: Warum tut die russische Regierung nichts dagegen? China hat mit seinen Antikorruptionskampagnen seit 2012 durchaus Erfolge bei der Volksbefreiungsarmee erzielt.
Keupp: In Russland gibt es manchmal Schauprozesse gegen Militärangehörige, die wegen Korruption verurteilt werden. Darüber berichten dann auch die Staatsmedien. Aber am System ändert sich nichts. Es gab vor 15 Jahren einmal den Versuch, mit Reformen die Korruption bei den Streitkräften zu bekämpfen, das ist aber nicht gelungen. Viel Geld versickert immer noch auf dem Weg vom Verteidigungsministerium zu den Kampftruppen, bleibt in den Taschen von Politikern, Rüstungsfunktionären und Generälen. Wenn man jetzt sieht, was in der Ukraine passiert, dann zeigt das, wie wenig es gelungen ist, die Korruption zu beenden.
ZEIT ONLINE: Viele Experten im Westen sind überrascht, wie groß die Probleme der russischen Streitkräfte sind.
Keupp: Es ist dilettantisch, was die russische Armee in der Ukraine zeigt. Dort sehen wir ein völliges Versagen der Logistik und es fehlt eine zentrale Führung – das ist aber nicht neu. Mich erinnert vieles an den Einmarsch in Afghanistan. Zwischen den Kriegen in der Ukraine und am Hindukusch gibt es durchaus Parallelen. 1979 ging die Führung von einem schnellen Schlag aus, in wenigen Tagen sollte der Krieg vorbei sein. Es passierte genau das Gegenteil. Die Mudschaheddin wehrten sich, wurden von den Amerikanern ausgerüstet, unter anderen mit Boden-Luft-Raketen. Damit haben sie Flugzeuge und Helikopter in Massen abgeschossen. Heute verlieren die Russen an die Ukrainer gewaltige Mengen an gepanzerten Fahrzeugen. Langsam wird es für die russischen Streitkräfte wirklich blamabel.
ZEIT ONLINE: Sind die russischen Streitkräfte viel weniger modern als gedacht?
Keupp: Wenn wir auf den Krieg schauen, blicken wir in die Vergangenheit. Die Russen zeigen die mechanisierte Kriegsführung des 20. Jahrhunderts. Mit Hightech hat das wenig zu tun. Es sind auch viele alte Waffensysteme im Einsatz, die noch reichlich aus der Sowjetzeit vorhanden sind. Man fragt sich schon, wohin eigentlich das russische Rüstungsbudget geht. Es gibt zwar auch neue Projekte und Entwicklungen wie Hyperschallwaffen, aber der enorme Schwund von Mitteln, die enorme Korruption, reduziert die Schlagkraft der Streitkräfte.
ZEIT ONLINE: Wie hoch ist der Militäretat?
Keupp:Russland investiert gut vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts pro Jahr ins Militär, vor dem Krieg waren das gut 61 Milliarden US-Dollar. Das klingt beeindruckend, ist aber viel weniger als noch in der UdSSR. Zu Sowjetzeiten waren es umgerechnet 260 Milliarden Dollar pro Jahr. Aber nur, weil man enorm viel Geld oben in die Streitkräfte hineingibt, kommt nicht zwingend am Ende auch große militärische Leistung heraus. Das zeigt auch die Bundeswehr, für die gut 45 Milliarden Euro im Jahr ausgegeben wurde, deren Leistungsfähigkeit aber eher bescheiden ausfällt.
ZEIT ONLINE: Noch einmal zurück zum Kriegsverlauf: Sehen Sie, dass sich mit der Fokussierung der Invasoren auf den Donbass Wesentliches geändert hat?
Keupp: Der Vormarsch der Russen läuft außerordentlich langsam. Die Frontlinie von Izium bis Cherson ist gut 500 Kilometer lang. Wir sehen kleine Vorstöße an einzelnen Frontabschnitten von vielleicht zwei Kilometern am Tag – und das meist erst nach mehreren vergeblichen Versuchen. Oft werden die Russen von den Ukrainern zurückgeschlagen und in ihre Ausgangsstellungen zurückgedrängt. Das ist absolut blamabel. Die Russen behindert nicht nur der Gegner, sondern auch die Rasputiza, die Schlammperiode. Wegen des matschigen Bodens rückt das russische Heer ausschließlich auf den Straßen vor. Ihr Angriffskeil ist so breit wie die Autobahn. So wissen die Verteidiger, wo und wann die Feinde kommen. Die ukrainischen Drohnenpiloten können die russischen Kolonnen mit ihren Angriffen leicht zum Stehen bringen, in dem sie vorne einige Fahrzeuge zerstören. Die Russen verlieren die Initiative und jedes Überraschungsmoment.
»Im Moment ist der Krieg eine Art tödliches Patt. Es ist die Frage, wer länger durchhält.«
ZEIT ONLINE: Die Ukraine hat angekündigt, nun auch zu Gegenangriffen auf russisches Territorium überzugehen. Wie verändert das den Konflikt?
Keupp: Diese Gegenschläge treffen die russischen Streitkräfte. Die Ukrainer greifen gezielt strategische Eisenbahnknoten, wie etwa in Brjansk, Eisenbahnbrücken und Treibstofflager an. Denn die russische Militärlogistik hängt stark von der Eisenbahn ab; diese verbindet das Land. Wenn sie unterbrochen wird, verzögert das den Nachschub erheblich.
ZEIT ONLINE: Geht dann den Angreifern irgendwann das Kriegsgerät aus?
Keupp: Material haben die Russen noch genügend. Aber sie verlieren viele Fahrzeuge an den Gegner, die wegen leerer Treibstofftanks oder Ersatzteilmangel liegenbleiben, dann von den Ukrainern übernommen und wieder fit gemacht werden. Der größte Lieferant von schweren Waffen an die Ukrainer ist ungewollt die russische Armee. Die Ukraine hat bisher schon über 200 russische Kampfpanzer erbeuten können. In einigen Wochen, wenn dieses Gerät wieder einsatzfähig gemacht ist und gegen die Russen gewendet wird, werden wir das auch im Kampfverlauf sehen.
ZEIT ONLINE: Wie wichtig sind die Waffenlieferungen aus dem Westen an die Ukraine?
Keupp: Schwere Waffen benötigen die Ukrainer sicherlich. Sie brauchen im Donbass aber nicht zwingend Panzer. Eine sehr effektive Waffe, um Panzervorstöße aufzuhalten, sind Artillerie und Lenkraketensysteme. Schwere Geschütze haben den Vorteil, dass sie den Gegner in 30 Kilometern Distanz bekämpfen können. Entscheidend für diesen Krieg ist, dass die Ukraine das industrielle Potenzial des Westens hinter sich hat.
ZEIT ONLINE: Wie und wann wird dieser Krieg enden?
Keupp: Er endet dann, wenn eine Seite einen entscheidenden militärischen Vorteil erringt. Die Ukraine muss dabei nicht militärisch siegen. Es reicht, wenn die Ukrainer es schaffen, den Russen so starke Verluste zuzufügen, dass sie den Preis der Operation als zu hoch bewerten. Im Moment ist der Krieg eine Art tödliches Patt. Es ist die Frage, wer länger durchhält.