Monday, May 2, 2022

Die große Frage, was der Besuch von Merz der Ukraine bringen kann

WELT Die große Frage, was der Besuch von Merz der Ukraine bringen kann Thomas Vitzthum - Gestern um 20:07 Besuche westlicher Politiker in Kiew sind schon Gewohnheit geworden. Und trotzdem erzeugt der Besuchsplan von CDU-Chef Merz Aufregung – vor allem in der Koalition. Dabei geht es auch um die politische Deutung, wer nun wirklich den Impuls zur Lieferung schwerer Waffen gab. Die Ukraine empfängt nicht jeden. Das hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier erfahren. Die Ausladung des Bundespräsidenten durch die ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj liefert Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und anderen Mitgliedern der Bundesregierung bis heute ein Argument, sich nicht in das Land aufmachen zu müssen. Eine gewisse diplomatische Karenzzeit war sicher angemessen, aber wie lange gilt sie? Dass die Regierung sie für noch nicht, aber doch bald für verstrichen erachtet, deutete Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) am Sonntagabend bei „Anne Will“ an. Sie sagte, dass eine Reise ihrerseits nach der des Bundespräsidenten geplant gewesen sei und nach der Ausladung Steinmeiers wieder abgesagt wurde. Gleichzeitig sagte Baerbock: „Ja, ich werde auch reisen.“ Vor CDU-Chef Friedrich Merz wird sie es aber nicht mehr schaffen. Merz wird in dieser Woche nach eigener Auskunft nach Kiew fahren. Der genaue Zeitpunkt wird aus Sicherheitserwägungen nicht kommuniziert. So zahlreich die internationalen Gäste in Kiew inzwischen geworden sind, eine Vergnügungsreise ist dies keineswegs. Das machte Wladimir Klitschko, der Bruder des Kiewer Bürgermeisters Vitali Klitschko, im Sender Phoenix deutlich. Den Besuchsplan von Merz kommentierte er so: „Wir erwarten jeden Politiker der freien Welt, der Solidarität mit uns zeigt.“ Und schränkte ein: „Wir haben den Himmel über uns nicht von russischen Raketen befreit, die aus Weißrussland, von Schiffen und U-Booten im Schwarzen Meer und aus Russland abgeschossen werden. Es ist in Kiew nicht sicher für westliche Politiker.“ Klitschko wirkt damit dem Eindruck entgegen, dass es in dem Land gar nicht mehr so schlimm zugehe. Ein Eindruck, der weder der Situation gerecht würde, noch den politischen Absichten der Ukraine einen Gefallen täte; der Rückhalt für Waffenlieferungen droht in den westlichen Gesellschaften zu schwinden, sollten die das Gefühl bekommen, in der Ukraine handle es sich nur noch um eine neue Version jenes Kampfes um den Ostteil, der doch seit Jahren tobt. Ob die Ukraine begeistert ist, dass Linke-Politiker Gregor Gysi ankündigt, ab Dienstag sechs Tage ohne Personenschutz durch die Ukraine zu reisen, darf man bezweifeln. Sollte Merz vor ihm die Grenze überschreiten, wäre er seit Kriegsausbruch der fünfte Vertreter des Bundestags, der das Land besucht. Ob er der Ranghöchste ist, daran scheiden sich die Geister. Mit Michael Roth (SPD) hat immerhin der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses schon Kiew besucht. Merz ist dagegen – bloß – Oppositionsführer. Das ist kein offizielles Amt, eigentlich ist er erstmal nur Fraktionschef. Trotzdem behandeln Regierungsvertreter den Besuch als etwas „Besonderes“. SPD-Chef Lars Klingbeil warf Merz ebenso wie die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FPD), „parteipolitische Spielchen“ vor. Das ist umso bemerkenswerter, als Strack-Zimmermann selbst schon in der Ukraine war, zusammen mit Roth und dem Vorsitzenden des Europaausschusses des Bundestags, Anton Hofreiter (Grüne). Die Reaktionen zeigen, dass diese Reisen allesamt natürlich eine erhebliche innenpolitische Dimension haben. Sie dienen längst nicht nur dazu, Kiew Solidarität auszudrücken. Das gilt für die Regierung ebenso wie für die Opposition. Wie die Reise wirkt, wird stark davon abhängen, ob Merz mit Präsident Selenskyj zusammentreffen kann. Sollte dies klappen, muss er sich einen Vorwurf sicher nicht gefallen lassen: nur gekommen zu sein, um ein Selfie zu machen. Denn es war Selenskyj selbst, der nach dem Besuch von US-Außenminister Anthony Blinken auf jene Politiker abzielte, denen es aus Kiews Sicht nur darum geht, dass ihr Besuch auf das eigene Konto einzahlt. Besucher seien aktuell sehr willkommen, aber nicht, um irgendwelche „Selfies“ zu machen, betonte Selenskyj vor zehn Tagen. „Man kann heute nicht zu uns mit leeren Händen kommen. Wir erwarten nicht nur einfach Geschenke oder irgendwelche Törtchen. Wir erwarten konkrete Dinge und konkrete Waffen.“ Merz kann keine Waffen mitbringen. Doch die Union bemüht sich, Merz als denjenigen zu präsentieren, der es geschafft hat, die Bundesregierung so sehr unter Druck zu setzen, dass sie sich zur Lieferung schwerer Waffen entschieden hat. Die Union stimmte einem entsprechenden Ampel-Antrag im Bundestag am Donnerstag zu, hatte zuvor aber einen eigenen verabschiedet. Dabei ist nicht alles gut gelaufen. Der Unions-Antrag war sachlich angreifbar. Das wird auch in der Partei anerkannt. „Da war manches nicht glücklich“, sagt einer aus der Fraktionsführung. Die Union behauptet gleichwohl unisono, die Bundesregierung in die richtige Richtung geschubst zu haben. Merz’ Besuch in Kiew kann diese Deutung der Ereignisse stabilisieren helfen. Würde Merz von Selenskyj empfangen, würde die Union dies als Dank für die eigene Initiative auslegen. Der Bundesregierung warf Kiew schließlich seit Wochen vor, bei der Lieferung schwerer Waffen zu zaudern. CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter sagte WELT: „Unsere deutsche Unterstützung der Ukraine ist keine Frage von Regierung versus Opposition. Deshalb haben wir ja im Bundestag letzte Woche einen gemeinsamen Antrag verabschiedet, der die Unterstützung für die Ukraine spürbar stärken soll. Dieser Antrag wäre ohne Merz nicht zustande gekommen.“ Diese gemeinsame staatspolitische Verantwortung von Opposition und Regierung wolle Merz mit dem Antrag und seinem Besuch zum Ausdruck bringen. Auch CDU-Vize Andreas Jung verteidigt die Reise-Pläne: „Es geht Friedrich Merz um Solidarität mit der Ukraine und um Informationen aus erster Hand. Drei Parlamentarier der Ampel-Fraktionen waren schon in der Ukraine, jetzt kommt der Vorsitzende der Unionsfraktion. Zusammen bildet das den breiten Schulterschluss im Bundestag über die Grenze von Regierung und Opposition hinweg ab.“ Merz selbst sagte auf der Pressekonferenz nach einer gemeinsamen Präsidiumssitzung von CDU und CSU am Montag in Köln: „Ich kann sagen, dass ich in den letzten zwei Tagen sehr viel Zustimmung bekommen habe, dass ich mich entschlossen habe, nach Kiew zu reisen. Ich nehme eine Einladung des ukrainischen Parlaments wahr.“ Er habe keinerlei Anzeichen gesehen, dass der Bundeskanzler eine solche Reise plane. „Deshalb habe ich keinerlei Veranlassung gesehen, dass ich eine solche Einladung nicht annehme.“ Auf die Frage was er anbieten könne, sagte Merz: „Wir können anbieten, dass wir aus der Opposition heraus, schon aus der letzten Woche eine einvernehmliche Haltung des Bundestags bewegt haben, die es ohne uns nicht gegeben hätte.“ Und was könnte Merz sonst in Kiew fordern? Naheliegend wäre es, die Wiedereröffnung der deutschen Botschaft zu verlangen. Mehr als zwei Dutzend Staaten haben sich entschieden, ihre diplomatischen Vertretungen wieder zu öffnen. Man prüfe fortwährend die Lage, sagte eine Sprecherin des Auswärtigen Amts auf Nachfrage. Laut Kiesewetter wäre es dafür längst Zeit: „Deutschland sollte als europäische Leitnation eine baldige Wiedereröffnung seiner Botschaft erwägen. Dies auch als Zeichen der Zuversicht für eine freie und unabhängige Ukraine.“