Friday, April 8, 2022
Völkerrecht im Ukraine-Krieg: Was Kriegsverbrechen sind und wie sie verfolgt werden
Handelsblatt
Völkerrecht im Ukraine-Krieg: Was Kriegsverbrechen sind und wie sie verfolgt werden
Seckel, Timm - Gestern um 19:00
Staaten und internationale Organisationen sprechen bereits seit Wochen von Hinweisen auf Kriegsverbrechen im Ukraine-Krieg. Was damit gemeint ist – ein Überblick.
Die grausamen Bilder zu möglichen Kriegsverbrechen in der ukrainischen Kleinstadt Butscha gingen um die Welt. Fotos, Videos und Satellitenbilder zeigen Zerstörungen und Leichen in dem Vorort von Kiew. Als mutmaßliche Täter gelten Soldaten aus Russland.
Sie töteten dem Anschein nach wahllos unbewaffnete Zivilisten. Die Gründe dafür sind unklar. Ukrainische Ermittler und Vertreter des Internationalen Strafgerichtshofs sammeln vor Ort Beweise für mögliche Kriegsverbrechen.
In Kriegen kommt es ständig zu tödlichen Kämpfen zwischen Soldaten. Dabei gilt das Töten unbeteiligter Menschen als Kriegsverbrechen. Diese und dutzende weitere Regeln sollen verhindern, dass die Zivilbevölkerung in Kriegsgebieten noch stärker als ohnehin unter einem Krieg leidet.
Doch was genau sind Kriegsverbrechen und wer kümmert sich um ihre Aufklärung? Ein Überblick mit den wichtigsten Fragen und Antworten:
Was sind Kriegsverbrechen?
Auch im Krieg gelten Gesetze: Das Völkerrecht schreibt den Kriegsparteien vor, wie sie sich in bestimmten Kriegssituationen verhalten müssen. Das ist in der bekannten Genfer Konvention aus dem Jahr 1949 festgelegt – eine Reaktion auf die Schrecken des Zweiten Weltkriegs. Die Konvention soll die Menschen schützen, die nicht unmittelbar an Kampfhandlungen teilnehmen. Dort heißt es in Artikel 3: „Personen, die nicht direkt an den Feindseligkeiten teilnehmen, [...] sollen unter allen Umständen mit Menschlichkeit behandelt werden.“
Näher beschrieben sind Kriegsverbrechen im Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs. Das Dokument listet eine Reihe von Verstößen auf, die als Kriegsverbrechen zu werten sind.
Darunter sind zum Beispiel die vorsätzliche Tötung, Folter, willkürliche Zerstörungen, vorsätzliche Angriffe auf die Zivilbevölkerung und zivile Objekte sowie Vergewaltigung. Der Gerichtshof mit Sitz im niederländischen Den Haag ist demnach vor allem zuständig, wenn Kriegsverbrechen geplant und in großem Umfang verübt werden.
Nicht unter den Sammelbegriff der Kriegsverbrechen fallen Völkermorde und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Auch sie gelten als schwere Verstöße gegen das Völkerrecht. Das Römischen Statut führt sie allerdings separat auf. In der öffentlichen Debatte wird „Kriegsverbrechen“ oftmals synonym verwendet. Im juristischen Sinne gibt es allerdings eine klare Trennung.
Wichtig ist auch: Grundsätzlich können nur natürliche Personen, also Menschen, Kriegsverbrechen verüben. Firmen oder Staaten können nicht mittels des Völkerstrafrechts verfolgt werden.
Wer kann bei möglichen Kriegsverbrechen ermitteln?
Der Ankläger des Internationalen Strafgerichtshofs kann Ermittlungen aufnehmen, wenn es Hinweise auf mögliche Kriegsverbrechen gibt. So sieht es das Römische Statut seit 2002 vor. In der Praxis gestaltet sich das häufig schwierig, weil das Gericht nicht über eine eigene Polizei verfügt und auf die Hilfe der Staaten angewiesen ist.
Allerdings gilt bei Verstößen gegen das Völkerrecht – also auch bei Kriegsverbrechen – das sogenannte Weltrechtsprinzip. Es besagt: Weil bestimmte, schwerwiegende Verbrechen international geschützte Rechtsgüter betreffen, dürfen alle Staaten der Welt dazu ermitteln und auch Strafen verhängen.
Prominentes Beispiel ist dabei der Fall eines Syrers, dem Verbrechen gegen die Menschlichkeit im syrischen Bürgerkrieg vorgeworfen wurden. Weil er sich in Deutschland aufhielt und die Justiz ihn entdeckte, kam er für die in Syrien begangenen Verbrechen vor das Oberlandesgericht Koblenz. Die Richter verurteilten ihn im Januar 2022 wegen einer Reihe von Delikten zu lebenslanger Haft. Der Fall gilt als historisch, weil damit in Deutschland erstmals das Weltrechtsprinzip in einem Prozess zum Syrien-Krieg zum Tragen kam.
Auch im Ukraine-Krieg ermittelt das Bundeskriminalamt (BKA) bereits zu Kriegsverbrechen. Auf Anweisung des Generalbundesanwalts werten BKA-Ermittler Hinweise auf Kriegsverbrechen aus. Auch der Bundesnachrichtendienst ist eingebunden und erhält Hinweise vom ukrainischen Geheimdienst.
Neben internationalen Institutionen und unbeteiligten Staaten können auch die Kriegsparteien selbst ermitteln. So sammelt etwa die Ukraine bereits seit Kriegsbeginn Beweise für mögliche Kriegsverbrechen russischer Soldaten. Sie wird dabei auch mit EU-Mitteln unterstützt.
Welche Gerichte verhandeln Kriegsverbrechen?
Grundsätzlich ist der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag zuständig. In der Praxis gestalten sich die Verfahren dort allerdings oft kompliziert und langwierig. So begann erst vor Kurzem der Prozess gegen einen sudanesischen Militärführer, dem Taten von vor bis zu 15 Jahren vorgeworfen werden.
Zudem sind nicht alle Staaten Mitglied des Gerichtshofs – darunter etwa China, die USA und Russland. Das erschwert Ermittlungen und die Überstellung von Angeklagten zusätzlich. Diese Staaten sind nicht verpflichtet, ihre Staatsbürger an den Gerichtshof zu überstellen. Andere Länder, darunter auch Deutschland, plädieren hingegen für eine universelle Anerkennung des Gerichts.
Allerdings können, gemäß dem Weltrechtsprinzip, auch nationale Gerichte in aller Welt über Kriegsverbrechen verhandeln. Die Verfahren unterscheiden sich dabei stark, je nach untersuchtem Krieg und Gericht.
Welche historischen Beispiele für Kriegsverbrechen gibt es?
Als Meilenstein in der Verfolgung von Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gelten die Nürnberger Prozesse nach dem Zweiten Weltkrieg. In ihnen verurteilten Richter führende Nationalsozialisten zu Haftstrafen und Todesstrafen wegen Kriegsverbrechen. Die Siegermächte legten dabei erstmals Grundsätze für ein internationales Militärgericht fest und verurteilten eine Reihe hochrangiger Vertreter des NS-Regimes.
Trotz vielfach dokumentierte Kriegsverbrechen, etwa im Vietnamkrieg, im Koreakrieg oder im Kalten Krieg, kam es danach für Jahrzehnte nicht zu weiteren Prozessen gegen Kriegsverbrecher. Erst mit den Internationalen Strafgerichtshöfen für Jugoslawien und Ruanda aus den Jahren 1993 und 1994 gelang es der Weltgemeinschaft wieder, Verstöße gegen das Völkerrecht zu ahnden – wenn auch nur auf diese Regionen konzentriert.
Die Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs als dauerhafte Institution sollte deshalb dem Völkerrecht zu mehr Geltung verhelfen und Ermittlungen vereinfachen.