Thursday, April 7, 2022

Transatlantische Beziehungen: Deutschland ist für viele Unternehmen aus den USA ein zu teurer Standort

Handelsblatt Transatlantische Beziehungen: Deutschland ist für viele Unternehmen aus den USA ein zu teurer Standort Sommer, Ulf - Gestern um 06:37 Deutsche und amerikanische Unternehmen rücken wieder enger zusammen. Doch gerade die hohen Energiekosten halten viele US-Konzerne von einer Investition ab. Bei allem Leid über Gräuel und Opferzahlen gibt es in den Firmenzentralen die Erwartung, dass der Krieg in der Ukraine den deutsch-amerikanischen Beziehungen einen kräftigen Schub verleiht. Nach einer aktuellen Blitzumfrage der deutsch-amerikanischen Handwerkskammer (AmCham), die dem Handelsblatt exklusiv vorliegt, rechnen in den Branchen Luftfahrt und Verteidigung 85 Prozent der Mitgliedsunternehmen mit besseren transatlantischen Wirtschaftsbeziehungen angesichts des Krieges in Osteuropa. Im Handel sind es 57 Prozent, bei Energie und Klima jeweils rund 50 Prozent. Nur jeweils eine kleine Minderheit geht von einer Verschlechterung der Verbindungen aus. Auch glauben so gut wie alle Befragten (93 Prozent), dass sich die transatlantische Kooperation nachhaltig verbessern wird, wenn es um Lösungen globaler Zukunftsfragen geht. Das zahlte sich vor allem während der vierjährigen Ära von US-Präsident Donald Trump aus. Mehr als 2000 US-Firmen beschäftigen hierzulande rund 300.000 Mitarbeiter. Bemerkenswert ist, dass für 41 Prozent der Unternehmen die steigenden Energiepreise nicht nur Grund zur Klage, sondern auch ein Treiber für mehr Investitionen im Rahmen der Energiewende werden und zu einer größeren Effizienz am Standort Deutschland führen könnten. Hingegen glaubt nur jeder vierte Firmenvertreter, dass künftige Investitionen aufgrund der steigenden Kosten für Strom, Gas und Öl zurückgehalten werden. Innovationschancen durch teure Energie Möglichkeiten für erfolgversprechende Investitionen gibt es reichlich, beispielsweise Energiepartnerschaften und den Handel mit Flüssiggas. Denkbar sind Firmenkooperationen, wie sie nach Ausbruch der Coronapandemie das Mainzer Unternehmen Biontech mit dem US-Pharmagiganten Pfizer eingegangen ist. Ähnliches kann sich AmCham-Germany-Präsidentin Simone Menne auch in der Industrie vorstellen, um den Energiebedarf in Deutschland mithilfe amerikanischer Firmen zu decken. Engere Verbindungen zum Nutzen beider sind dringend nötig, denn aus Sicht der USA verliert Europas größte Volkswirtschaft mehr und mehr an Attraktivität. Nur noch 59 Prozent der befragten Unternehmensvertreter bewerten den Standort Deutschland als sehr gut oder gut. 2018 waren es noch neun von zehn US-Firmen und im Vorjahr immerhin zwei Drittel. Die Kritik am Standort Deutschland entwickelt sich zu einem Brennpunktthema. Im Fokus stehen nicht nur die seit Jahren kritisierten hohen Arbeitskosten, sondern noch mehr die aus Sicht der Amerikaner schlechte Qualität der digitalen Infrastruktur und die teure Energie. Zwei Drittel der Befragten sehen hier dringenden Handlungsbedarf. Doch wie kann dieser aussehen? Aus Sicht von Menne, die unter anderem Aufsichtsrätin der Deutschen Post und des Markenartikel-Herstellers Henkel ist, geht es nicht um staatlich subventionierte Strom- und Gaslieferungen. „Viel wichtiger ist es, Unternehmen zu animieren, selbst in die Energieproduktion zu investieren: beispielsweise in eine Kreislaufwirtschaft am Produktionsstandort, was wiederum der Staat finanziell fördern könnte.“ Ein mögliches Vorbild für solch eine Kreislaufwirtschaft könnte der Industriepark Marl-Hüls sein. Hier gibt es Testverfahren, um Kohlendioxid mithilfe von Biomasse zu trennen und daraus synthetische Kraftstoffe herzustellen, die der Industrie als Energieträger dienen. Oder der geplante Wertstoffkreislauf zwischen Wolfsburg und Salzgitter: Der gleichnamige Stahlkonzern vereinbarte mit VW eine Absichtserklärung für den Kauf von „grünem“, das heißt mithilfe von Wasserstoff hergestelltem Stahl. Salzgitter wird bei VW anfallende Stahlreste schmelzen, verarbeiten und als neuen Stahl in das nur wenige Kilometer benachbarte Wolfsburger Autowerk liefern, damit VW ihn erneut in seine Autos verbauen kann. Derartige Kooperationen können helfen, den Standort Deutschland zu stärken. Luft nach oben gibt es auch bei den transatlantischen Handelsbeziehungen, wo sich die Mehrheit der amerikanischen Unternehmen mehr Liberalisierungen wünscht. Menne plädiert gegenüber dem Handelsblatt dafür, „alle Handelshemmnisse Schritt für Schritt konsequent abzuarbeiten“. Das heißt Einzelverhandlungen über den Abbau von allen Zöllen in den einzelnen Industriesektoren wie beispielsweise der Stahlindustrie. Dies sei zielführender, als die Verhandlungen um das gescheiterte transatlantische Handelsabkommen TTIP wiederaufzunehmen und dabei ein erneutes Scheitern zu riskieren. Die Kritik am Standort Deutschland deckt sich mit vorangegangenen Erhebungen der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG. Demnach beurteilten nicht nur Unternehmen aus den USA, sondern auch aus China, Japan und Europa die größte Volkswirtschaft auf dem alten Kontinent zunehmend kritisch. Nur noch 19 Prozent der Konzerne gaben an, in den kommenden fünf Jahren mindestens zehn Millionen Euro pro Jahr in Deutschland zu investieren. Vier Jahre zuvor wollten dies noch 34 Prozent. Joe-Biden-Effekt ist verpufft Als größtes Investitionshemmnis nannten die befragten Konzernvorstände wie gewohnt die unzureichende digitale Infrastruktur. Für neun Prozent war es sogar die schlechteste in der Europäischen Union (EU), für weitere 24 Prozent zählte sie zu den fünf schlechtesten in der EU. Das deutsche Steuersystem stuften die von KPMG befragten Finanzvorstände als „nicht wettbewerbsfähig“ ein und anfallende Arbeitskosten von durchschnittlich 36,60 Euro pro Stunde, die weit über dem EU-Durchschnitt von 28,50 Euro liegen, als viel zu hoch. Auch im Land der unbegrenzten Möglichkeiten sehen nicht nur amerikanische, sondern auch deutsche Unternehmen Verbesserungspotenzial. Nicht in der Digitalisierung, den aus ihrer Sicht exzellenten Bedingungen für Start-ups oder dem Potenzial als Absatzmarkt – hier ist die Zufriedenheit ungebrochen groß. Doch Handlungsbedarf gibt es in der Logistik: bei der Beschaffenheit vieler maroder amerikanischer Straßen, Brücken und Schienen. Wieder rückläufig ist aus Sicht der deutschen Firmen die Verlässlichkeit der Politik am Standort USA. Sie wird von fast der Hälfte (48 Prozent) der Befragten als „schlecht“ eingestuft. Im Vorjahr waren es nach dem Amtsantritt von Präsident Joe Biden „nur“ 36 Prozent, im Jahr davor unter Donald Trump 81 Prozent. Menne macht in ihren Gesprächen einen „Realitätsgewinn“ bei den deutschen Mitgliedsfirmen aus. Die Regierung Biden kommt mit vielen Initiativen nicht vorwärts, weil sich Senat und Kongress bei etlichen Vorhaben und Gesetzesvorlagen blockieren. Dies sorge für weniger Planbarkeit als ursprünglich erhofft. Ein solcher „Realitätsgewinn“ stellt sich im Übrigen nicht nur bei den deutschen Unternehmen in den USA ein, sondern auch bei der Mehrheit der Bevölkerung. Der Fernsehsender NBC präsentierte jüngst eine Umfrage, wonach 71 Prozent der Amerikaner kein großes Vertrauen in die Regierung Biden und seine Fähigkeit haben, auf Putins Krieg angemessen zu reagieren. Die häufigste Kritik lautet: zu zögerlich.