Friday, April 8, 2022

Sieg der Ukraine: Nur auf dem Papier chancenlos

ZEIT ONLINE Sieg der Ukraine: Nur auf dem Papier chancenlos Hauke Friederichs - Gestern um 16:56 Die ukrainische Armee kann den russischen Angriffen überraschend viel entgegensetzen. Inzwischen scheint sogar ein Sieg möglich. Dafür gibt es sieben Gründe. Zwischen Einfamilienhäusern fahren russische Kampfpanzer durch eine nordukrainische Siedlung. Plötzlich schlagen Granaten ein, Rauch steigt auf, Fahrzeuge brennen. Ukrainische Artilleristen haben den Gegner unter Feuer genommen. Als die Russen sich zurückziehen, greift eine Kampfdrohne vom Typ Bayraktar TB2 an, die weitere Panzer zerstört. Zu sehen ist dieser kombinierte Angriff auf einem Video, das über Twitter verbreitet wird. Andere kurze Filme zeigen, wie die Drohnenpiloten mit Artilleristen und Pionieren, die Anti-Panzer-Minen verlegt haben, zusammen gegen eine russische Fahrzeugkolonne vorgehen. Den Ukrainern und Ukrainerinnen gelingt es immer wieder, komplexe Angriffe zu koordinieren. Obwohl die ukrainischen Truppen den Invasoren bei der Zahl des Kriegsgeräts und der Gesamtzahl der Soldaten klar unterlegen sind, können sie den Angreifern seit mehr als 40 Tagen trotzen. Selbst heftig umkämpfte Städte wie Mariupol halten sie. Wie sie das geschafft haben? Sieben Erklärungsversuche für den bisherigen ukrainischen Erfolg: 1. Taktik Die Ukrainerinnen und Ukrainer verteidigen gezielt wichtige Straßen. Aus dem Schutz von Wäldern greifen sie mit Raketen permanent russische Einheiten an. Zu Beginn des Kriegs operierten sie rein defensiv. Zunächst verzögerten sie den russischen Vormarsch und bauten Verteidigungslinien auf, um bedeutende Städte wie Odessa und den Westen des Landes halten zu können. Seit einer Woche gehen sie aus den gesicherten Gebieten zu kleinen Gegenoffensiven über. Am 3. und 4. April waren sie mit Gegenschlägen im Raum von Cherson erfolgreich. Es gelingt ihnen, den russischen Streitkräften so starke Verluste beizubringen, dass die Gegner sich neu formieren müssen und dafür sogar Truppen nach Belarus zurückgezogen haben sollen. Die ukrainische Armee agiert zudem ganz anders als noch 2014. Aus dem Hinterhalt greifen die Ukrainer sehr erfolgreich die Nachschublinien der russischen Armee an: Je mehr Lastwagen mit Proviant und Treibstofftransporte sie zerstören können, desto mehr stockt der russische Angriff. In den Regionen Luhansk und Donezk, auf die sich die russischen Truppen seit einigen Tagen konzentrieren, gelingt es Wladimir Putins Soldaten kaum, Geländegewinne zu erzielen. Auch dort fügen die Ukrainerinnen und Ukrainer dem Gegner mit Vorstößen aus defensiven Stellungen heraus schwere Verluste zu. 2. Durchhaltewillen Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj und die Führung der Streitkräfte demonstrieren ihren unbedingten Willen, nicht aufzugeben. Trotz heftigen russischen Beschusses und vieler Opfer unter der Bevölkerung haben sie keine einzige attackierte Großstadt kampflos geräumt. Sie wissen genau, dass der Häuserkampf für die Angreifer stets äußerst verlustreich verläuft. Militärexperten sagen, dass ein Verhältnis von mindestens acht zu eins erforderlich sei, um eine Stadt zu stürmen. In Mariupol zeigt sich, wie schwer es den Russen fällt, in den Straßen die Kontrolle zu gewinnen. Die Ukrainerinnen und Ukrainer binden dort starke russische Kräfte, die nirgendwo anders kämpfen können. Und die Verluste der Angreifer sind nach Angaben des Institute for the Study of War (ISW) hoch. Am 4. April hat Russland die ukrainischen Streitkräfte aufgefordert, die umkämpfte Hafenstadt aufzugeben. Die Verteidiger und Verteidigerinnen sollten am Dienstagmorgen über einen Korridor die Stadt verlassen können, verkündete Generalmajor Michail Misinzew. Laut MDR versprach er: "Allen, die ihre Waffen niederlegen, wird das Leben garantiert." Solche Angebote haben die Ukrainer in den vergangenen Wochen öfters bekommen – und immer ausgeschlagen. 3. Training Wie man eine Invasion abwehrt, lernten ukrainische Soldaten von ausländischen Ausbildern. Trainer aus den USA haben sie gedrillt, außerdem schickten Großbritannien, Kanada, Litauen und Polen eigene Instrukteure. Gemeinsam haben sie Zehntausenden ukrainischen Soldatinnen und Soldaten modernes Militärwissen vermittelt und in der Praxis gezeigt. Auch in Deutschland haben ukrainische Soldaten den Kampf gegen einen überlegenen Gegner trainiert. So waren zum Ende des vergangenen Jahres auf einem Truppenübungsplatz in Bayern einige Einheiten an einer US-Übung beteiligt. Sie lernten Nachtkampf und den Einsatz der Panzerabwehrrakete Javelin. Ukrainische Spezialeinheiten trainierten zudem, hinter den feindlichen Linien zu operieren, was ihnen nun im Kampf gegen die russischen Truppen nützt. 4. Armeestruktur Wolodymyr Selenskyj hat seit seinem Amtsantritt 2019 die Armee reformiert und die Generäle an der Spitze verjüngt. Seit acht Monaten führt Waleri Saluschni die ukrainischen Streitkräfte. Der 48-Jährige wurde nicht wie seine Vorgänger in der Sowjetunion ausgebildet und hängt nicht der russischen Militärdoktrin an, die vor allem auf Quantität setzt. Saluschni hat seine Truppe an den Westen gebunden. Außerdem gab der neue Befehlshaber seinen Kommandeuren im Feld mehr Kompetenzen: Sie führen die Truppen vor Ort nun weitaus eigenständiger als noch 2014. Vor dem Kriegsbeginn dienten 255.000 aktive Soldaten und Soldatinnen in den Streitkräften und der Nationalgarde. Wie viele Einheiten die Ukraine bisher verloren hat, ist nicht zu beziffern. Experten der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik gehen von mindestens 10.000 Toten und Verwundeten aus. Auch wenn gut ausgebildete Männer und Frauen schwer zu ersetzen sind, gibt es viele neue Rekruten. Mehr als 100.000 Freiwillige haben sich nach Angaben der Armee bereits gemeldet. Sie verstärken vor allem die Territorial Defence Force, die aus leichter Infanterie besteht. So gelingt es der Ukraine, weitaus mehr Infanteristen in Gefechte zu schicken, als die Angreifer aufbieten können. 5. Moral Seit dem Kriegsbeginn am 24. Februar erweisen sich die ukrainischen Soldaten und Soldatinnen als besonders motiviert. Bereits für Carl von Clausewitz, den berühmten preußischen Militärtheoretiker, war die Moral der entscheidende Faktor im Krieg. Seit 2014 wissen die Ukrainerinnen und Ukrainer genau, wofür sie kämpfen. Sie wollen den Invasoren nicht noch mehr Territorium überlassen. Als Putin nach der Krim griff, liefen dort viele ukrainische Soldaten über. Nun halten die Verteidiger selbst unter andauerndem Beschuss Stand. Kriegsverbrechen, die den russischen Truppen in Butscha und an anderen Orten vorzuwerfen sind, dürften die ukrainischen Soldaten eher noch stärker motivieren, um jeden Meter Boden weiterzukämpfen. 6. Vorbereitung Die Militärs der Ukraine haben sich intensiv auf den russischen Angriff vorbereitet – mit Hilfe aus dem Westen. Noch Anfang 2022 war etwa der ehemalige Generalmajor Michael Repass, der Spezialeinheiten der USA kommandierte, als Berater des ukrainischen Generalstabs in der Ukraine. Er und andere Experten mit Einsatzerfahrung in Afghanistan und dem Irak haben die Partner in Kiew dabei unterstützt, eine Strategie gegen die überlegene russische Armee zu entwickeln. "Wir alle hatten dieselben Verhaltensmuster, dieselben Prozesse, dieselbe taktische Sprache", sagte Repass dem Schweizer Sender SRF. Die Ukrainer haben die russischen Luftschläge vorausgesehen und Ausrüstung rechtzeitig in Sicherheit gebracht. So haben sie einen Teil ihrer Boden-Luft-Raketenabwehr versteckt oder in Bunkeranlagen untergebracht. Bereits am ersten Tag des Kriegs verkündete Russland, die Luftabwehr der Ukraine ausgeschaltet zu haben. Eine gezielte Täuschung. Danach verloren die Angreifer viele Flugzeuge und Helikopter durch ukrainische Boden-Luft-Raketen. 7. Waffen von Nato-Staaten Das US-Verteidigungsministerium kündigte zuletzt Anfang April an, dass die Ukraine weitere Waffen für gut 270 Millionen Euro erhalte, dazu gehören auch gepanzerte Fahrzeuge. Seit 2021 haben allein die USA Militärhilfe in Höhe von 2,3 Milliarden Dollar an die Regierung in Kiew geleistet. Die Vereinigten Staaten versorgen die Partner zudem mit Geheimdienstinformationen, was den Ukrainern gezielte Angriffe auf entscheidende Ziele ermöglicht. Eine Erfolgsgarantie bedeutet das alles für die Ukraine nicht. Aber es ermöglicht den Verteidigern seit 41 Tagen, die Angreifer auf Abstand zu halten. Und immer mehr Experten im Westen halten es für möglich, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer den Krieg gewinnen. Das hätte vor dem russischen Angriff kaum jemand so eingeschätzt.