Friday, December 31, 2021
Man gewinnt den Eindruck, Scholz lebt in einem parallelen Deutschland
WELT
Man gewinnt den Eindruck, Scholz lebt in einem parallelen Deutschland
Alan Posener - Vor 46 Min.
Zu Beginn der Koalitionsverhandlungen hatte Olaf Scholz versprochen, nicht Angela Merkel, sondern er werde die traditionelle Neujahrsansprache des Regierungschefs halten. Das Versprechen immerhin hat er eingelöst. Noch besser wäre es gewesen, Scholz hätte versprochen, die Ansprache abzuschaffen. Was soll denn in einer solchen Rede schon Neues stehen?
Wäre Scholz länger Kanzler, er würde das wiederholen, was er in diversen Bundestagsreden gesagt hat; da er eigentlich noch gar nicht angefangen hat zu regieren, kann er nur wiederholen, was im Ampelkoalitionsvertrag steht.
Und so kommt dabei eine Rede heraus, die man als Langeweile, mit Floskeln garniert bezeichnen kann. Die Floskeln sind: „Herausforderungen entschlossen annehmen, alle zusammen anpacken, riesige Solidarität, überwältigende Hilfsbereitschaft, neues Zusammenrücken, starke Gemeinschaft, Respekt voreinander, schnell und entschlossen reagieren, Jahrzehnt des Aufbruchs, ehrgeizige Ziele, massive Investitionen neuen Wohlstand, gute Arbeitsplätze, Gemeinschaft, Respekt, Anerkennung und gute Lebenschancen für alle, Fortschritt für eine bessere Welt, Europa, gemeinsame Werte, Frieden, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, eine neue Zeit, aktiv gestalten, unser Schicksal entschlossen selbst in die Hand nehmen, zusammen bleiben.“
Hier wird ein Plan verlangt. Und der fehlt.
Die Langeweile lautet im ersten Teil der Rede: Lassen Sie sich bitte impfen. Im zweiten Teil die Kurzfassung des Ampelprogramms: Deutschland Klimaneutral bis 2045, 12 Euro Mindestlohn, souveränes Europa, transatlantische Partnerschaft. Wir schaffen das. Ach nein, das war die vorige Amtsinhaberin.
Wir werden es aber nicht schaffen, wenn wir uns an das halten, was Scholz sagt. Nehmen wir die Ankündigung eines fossilfreien Energiesektors bis 2045: „Wir werden uns in diesem Zeitraum unabhängig machen von Kohle, Öl und Gas“, so Scholz. „Und gleichzeitig mindestens doppelt so viel Strom als heute aus Wind, Sonne und anderen erneuerbaren Energien erzeugen.“
Heute decken diese erneuerbaren Energiequellen etwa 45 Prozent unseres Strombedarfs. Eine Verdoppelung würde bedeuten, dass sie im Jahre 2045 90 Prozent unseres jetzigen Strombedarfs decken. Dabei steigt der Strombedarf nach Expertenberechnungen um 50 Prozent. Aus welchen Quellen will Scholz diese Lücke schließen? Gut, das kann ihm egal sein, er wird dann nicht mehr Kanzler sein.
Uns kann das aber nicht egal sein. Neujahr hin und her: Hier wird mehr verlangt als „alle gemeinsam miteinander zusammen geschlossen anpacken“. Hier wird ein Plan verlangt. Und der fehlt.
Das Land ist nicht gespalten? Wo lebt Scholz denn?
Ebenso wie ein Plan fehlt, wie man die Impfquote steigert. Einfach einen General einsetzen, um die Kampagne zu managen, reicht nicht. Man führt ja keinen Krieg gegen das Virus. Man muss ja die Menschen überzeugen.
Wenn Scholz fast beschwörend meint, das Land sei nicht gespalten, das Gegenteil sei richtig, er erlebe überall „eine riesige Solidarität, überwältigende Hilfsbereitschaft, ein neues Zusammenrücken und Unterhaken“, dann lebt er, wie bei der Energieerzeugung, in einem parallelen Deutschland.
Das ist aus verschiedenen Gründen bedenklich. Denn in Sachen Corona wird es wohl diese Regierung sein, die nach dem Abebben der Pandemie mit den tatsächlichen Rissen in der Gesellschaft und der Entfremdung eines zwar nicht riesigen, aber doch großen Teils der Bevölkerung von den Regierenden zu tun haben wird. Pfeifen im Wald ist da eher kontraproduktiv.
Zu sagen, Scholz habe eine Gelegenheit versemmelt, etwas Gehaltvolles zu sagen, wäre unfair. Er hatte die Gelegenheit gar nicht. Die Neujahrsansprache soll ja möglichst nichtssagend sein und niemandem die Stimmung verderben.
Wer, wie wir Journalisten, genau hinhört und sich über Ungereimtheiten ärgert, ist selber schuld. Ja, aber wenigstens ein paar neue Floskeln hätten es sein können, oder? Andererseits: Wieso? Wir gucken auch jedes Jahr „Dinner for One“ und verlangen auch nicht, dass Freddie Frinton über etwas anderes stolpert als einen Tigerkopf. Also: Same procedure as every year. Skol!
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