Monday, June 10, 2024

Europawahl: Warum die Grünen fast die Hälfte der Stimmen verloren haben

Handelsblatt Europawahl: Warum die Grünen fast die Hälfte der Stimmen verloren haben Kersting, Silke Olk, Julian • 2 Std. • 5 Minuten Lesezeit Das Kernthema Klimaschutz zieht nicht mehr, es schreckt Wählerinnen und Wähler eher ab. Aus der Partei kommen nach dem Absturz bei der Europawahl radikale Reaktionsvorschläge. Zumindest die grüne Basis hatte noch gute Laune. Bis in die Nacht hinein tanzten die Grünen am Sonntag in der Berliner Columbia-Halle. Dabei gab es zum Feiern wenig Grund. Der Parteiprominenz war das sehr klar. Nur Bundesfamilienministerin Lisa Paus, die kurz vor 23 Uhr den Saal verließ, war aus der Parteispitze auf der Tanzfläche zu entdecken. Seit 8:30 Uhr an diesem Montagmorgen sitzen die Spitzen der Grünen nun in der Bundesgeschäftsstelle zusammen. Die Chefs von Partei, von Fraktion sowie Annalena Baerbock und Robert Habeck haben einen regelrechten Absturz aufzuarbeiten. 11,9 Prozent der Stimmen haben die Grünen bei dieser Europawahl geholt. Dass das Rekordergebnis aus 2019 von 20,5 Prozent nicht zu halten sein würde, ahnten die Grünen im Wahlkampf. Zur Zielmarke erklärten sie daher das Ergebnis der Bundestagswahl 2021 in Höhe von 14,8 Prozent. Trotz aller Stimmung gegen die Grünen hätten die Verantwortlichen dann erklären können, stabil geblieben zu sein. Die AfD auf Platz zwei: „Einfach bestürzend“ Doch statt Stabilität müssen sie nun eine deutliche Niederlage begründen. Und die ist besonders schmerzhaft, weil die Verluste sich vor allem in der jungen Wählerschaft zeigen, in einer Klientel, die einst den Kern der Grünen bildete und von der noch vor fünf Jahren viele grün wählten. Schon am Sonntagabend kamen in der Columbia-Halle deshalb Fragen auf: Wer hat Fehler im Wahlkampf gemacht? Brauchen die Grünen mehr Profilierung in der Ampel? Braucht es personelle Konsequenzen? Als in der Halle am Sonntag um 18 Uhr auf einer großen Leinwand die erste Hochrechnung des ZDF aufpoppt, die ihre Partei bei 12,5 Prozent einordnet, versteinern die Grünen im Saal nahezu. Vielleicht drei oder vier klatschen verhalten. Erst, als eine Wahlbeteiligung von mehr als 66 Prozent angezeigt wird, erlauben sich die Grünen, beherzter zu klatschen. Um 18:27 Uhr kommen die Parteichefs Ricarda Lang und Omid Nouripour zusammen mit ihrer EU-Spitzenkandidatin Terry Reintke auf die Bühne. Nouripour gratuliert erst der Union zum Wahlsieg. Das eigene Ergebnis, sagt er dann, „ist sicher kein zufriedenstellendes“. „Wir sind nicht zufrieden“, erklärt auch Reintke. Es sei eine „demokratische Katastrophe“, dass die AfD in einer Europawahl hinter der Union auf Platz zwei lande. „Einfach bestürzend“, kommentiert Nouripour. „Bitter diese Niederlage“, sagt ein prominenter grüner Bundestagsabgeordneter. „Ich hol' mir noch ein Bier.“ Doch es sind nicht die zwölf Prozent, die an diesem Abend die Gespräche bestimmen. Vielmehr schreckt die Grünen auf, was in ihrer einstigen Kernklientel passiert ist. Die Jugend strömt nicht mehr zu den Grünen, sie läuft geradezu weg. Bei den 16- bis 24-jährigen Jung- und Erstwählern verbuchten die Grünen laut Forschungsgruppe Wahlen bei der Europawahl nur elf Prozent. Union und AfD kommen bei dieser Altersgruppe auf 17 Prozent beziehungsweise 16 Prozent. Zu spät und zu wenig bei Tiktok eingestiegen, lautet eine der Analysen. Die Jugendlichen fühlten sich nicht gehört, heißt es auch. Dass ihr Vorschlag, die Folgen der Coronapandemie mit kostenlosen Interrail-Tickets für 18-Jährige abzumildern, aufgrund des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine am Ende versandete, hält man heute für einen großen Fehler. Das „Heizungsgesetz“ und die grüne Misere Bestimmend ist aber, dass das grüne Kernthema Klimaschutz keine Wählerinnen und Wähler angezogen hat, sondern vielmehr abgeschreckt. Seit dem Heizungsgesetz von Wirtschaftsminister Habeck hat sich die Stimmung immer mehr gegen Klimaschutz und immer mehr gegen die Grünen gedreht. Das Heizungsgesetz: Es ist der Dreh- und Angelpunkt für die grüne Misere auch an diesem Abend. Rasmus Andresen, Sprecher der deutschen Grünen im EU-Parlament, sprach von einer „unklaren sozialen Flankierung und Kommunikation“. Das habe viele Menschen verunsichert. „Wir haben die Veränderungsbereitschaft unterschätzt“, meinte am Abend Grünen-Urgestein Jürgen Trittin in der Sendung „Caren Miosga“. Und die notwendigen Veränderungen nicht mit sozialer Sicherheit verknüpft. Das Problem für die Partei: Sie kann nicht darauf hoffen, dass sich das ändert. Sie wird mit diesem Trend umgehen müssen. Der Weg dafür: nicht mit, sondern trotz Klimaschutz für sich werben. Sich nicht wählbar machen, weil die Grünen das Klima schützen. Sondern, weil sie beim Klimaschutz die Menschen nicht allein lassen, sondern für sozialen Ausgleich sorgen. „Wir müssen die Geschichte anders erzählen“, sagt eine führende Grüne. Dass man das nur begrenzt umsetzen könne, gestehen am Sonntagabend auch einige ein. Schließlich verhandelt die Bundesregierung derzeit einen Sparhaushalt. Mehr soziale Flankierung ist da kaum drin. Viele in der Partei hielten auch die Kampagne im Wahlkampf für verfehlt. Die war vor allem auf „Grün vor Blau“ angelegt. Jede Stimme für die Grünen sollte eine für Demokratie und gegen den erstarkenden rechten Rand sein. Und irgendwie auch für den Klimaschutz. „Machen, was zählt“, das war das zentrale Plakatmotto. Aber was zählt denn? Man habe den Leuten mit dieser Kampagne nicht nur kein überzeugendes, sondern gar kein Angebot gemacht, sagt jemand aus der Parteispitze. Das scheint auch für die andere Seite zu gelten. Bei den jüngeren Wählerinnen und Wählern haben die Grünen nicht nur wegen zu viel Klimaschutz verloren, sondern auch wegen zu wenig. Viele Stimmen gingen statt zu den Grünen zur paneuropäischen Kleinpartei Volt, die mit knapp drei Prozent ihr Ergebnis ungefähr vervierfachte. Als Teil der Ampel mussten die Grünen viele Kompromisse eingehen. Waren sie 2019 noch auf der Welle von Fridays for Future unterwegs, gehören die Klimaschützer inzwischen immer wieder zu ihren schärfsten Kritikern. Debatte über die Führungsstruktur Angesichts dieser Zwickmühle bringen wichtige Parteimitglieder deshalb auch Änderungen in der „Führungsstruktur“ ins Spiel. Manche meinen damit auch personelle Konsequenzen. Mit der Organisation in der Sechserrunde – die Partei- und Fraktionschefs sowie Habeck und Baerbock – erreiche man die Leute nicht mehr. Es brauche weniger, dafür stärkere Köpfe. Dass Baerbock und Habeck neben ihren Ministerämtern auch wieder die Parteiführung übernehmen, ist eine Idee, die herumgeistert. Wenn auch wohl eine unrealistische. Doppelämter hat es bei den Grünen noch nie gegeben. Ein Name, der auch immer wieder fällt, ist der von Bundesgeschäftsführerin Emily Büning. In ihrer Funktion ist sie die Hauptverantwortliche für den Wahlkampf. Anders als ihr Vorgänger Michael Kellner hält sie sich vollständig im Hintergrund, selbst im Wahlkampf, was einige Grüne als problematisch empfinden. Allerdings ist die überwiegende Meinung, dass man die vielen Gründe für die Niederlage jetzt auch nicht einfach auf Büning abladen könne. Einig ist man sich immerhin, dass Spitzenkandidatin Reintke keinen Unterschied machte. Einhellig hieß es, an den Spitzenkandidaten habe sich diese Wahl nicht entschieden, sondern gleich an einer ganzen Reihe von grundlegenden Fehlleistungen der Grünen.