Monday, June 10, 2024

Analyse zur Wahl-Klatsche - Der große Grünen-Absturz: „Ein Ausweg ist gar nicht erkennbar“

FOCUS online Analyse zur Wahl-Klatsche - Der große Grünen-Absturz: „Ein Ausweg ist gar nicht erkennbar“ FOCUS-online-Redakteur Florian Reiter • 15 Std. • 4 Minuten Lesezeit Vereint in der Niederlage: Die Grünen-Chefs Omid Nouripour und Ricarda Lang gehen bei der Wahlparty der Grünen von der Bühne Brutale Ohrfeige: Von 20 auf 12 Prozent stürzten die deutschen Grünen bei der Europawahl ab, selbst bei alten Stammwählern bröckelt der Rückhalt. Was jetzt? In den letzten Tagen vor der Europawahl hatten sie sich bei den deutschen Grünen noch einen neuen Slogan überlegt. „Grün vor Blau“ sei das Motto, sagte die Politische Bundesgeschäftsführerin Emily Büning bei einem kleinen Parteitag am 1. Juni in Potsdam. Mit „Blau“ war die AfD gemeint, es gehe um die Frage, so Büning, „ob wir es schaffen, die rechtsextremen Kräfte in diesem Land in die Schranken zu weisen.“ Grüne unter den Ansprüchen Am Ende jedoch lag Blau vor Grün, und das sogar einigermaßen deutlich. Auf nur zwölf Prozent kommen die deutschen Grünen laut der ersten Hochrechnungen ab 18 Uhr, ein Total-Absturz um 8,5 Prozentpunkte gegenüber der letzten Europawahl 2019. Die AfD hingegen legte aller Skandale zum Trotz deutlich zu, um 5,5 Prozentpunkte auf jetzt 16,5 Prozent. Ein Stück weit war das Ergebnis zu erwarten. Die letzten Umfragen vor der Wahl verhießen nichts Gutes, die im politischen Berlin kursierenden Nachwahlbefragungen signalisierten schon am Nachmittag, dass es auf zwölf Prozent hinuntergehen könnte. Aber der Schock war den Grünen-Größen anzumerken. „Das ist nicht der Anspruch, mit dem wir in diese Wahl gegangen sind und wir werden das gemeinsam aufarbeiten“, sagte Co-Parteichefin Ricarda Lang in einer ersten Reaktion am Sonntagabend. „Unser Anspruch ist ein anderer“, betonte auch Omid Nouripour, Langs Kollege an der Parteispitze. Die seltsame Europawahl 2019 Auch in der Ursachenforschung waren sich die beiden Grünen-Chefs schnell einig. Erstens: Die Situation sei einfach eine andere als noch bei der letzten Europawahl 2019. Tatsächlich herrschte damals noch kein Krieg in der Ukraine, von Corona-Pandemie und Inflation war noch keine Spur. Die Menschen seien verunsichert gewesen, sagte Lang, die Frage von Krieg und Frieden sei diesmal für die Wählerinnen und Wähler enorm wichtig gewesen. Hingegen war 2019 das erste Jahr der großen „Fridays for Future“-Demos, die Klimabewegung hatte sich plötzlich in der Mitte der Gesellschaft verankert. Umfragen liefern zwar nur wenige Hinweise darauf, dass Klimaschutz den Wählerinnen und Wählern plötzlich weniger wichtig wäre. Aber haben sich vielleicht dennoch die Prioritäten verschoben? In Grünen-Kreisen kursiert schon die Erklärung, dass 2019 einfach ein großer Ausreißer nach oben gewesen sei - bei der vorletzten Europawahl 2014 habe man schließlich gerade so die zehn Prozent geknackt. „Es ist ein Ansehensverfall erkennbar“ Die zweite Erklärung: Die Ampel zieht die Grünen nach unten - aber nur bedingt wegen ihrer Politik. Die Koalition müsse die gute Politik, die sie mache, „nach vorne stellen“, sagte Nouripour. „Und wir müssen liefern.“ Eine große Kursänderung der deutschen Grünen sei auch nicht unbedingt zu erwarten, sagte Lang, und nannte die Ukraine-Politik ihrer Partei als Beispiel. Denn wenn der russische Präsident Wladimir Putin diesen Krieg gewinnen würde, wäre die Zukunft auch in Deutschland weniger friedlich. Für den Parteiforscher Karl-Rudolf Korte hat der Absturz jedoch auch inhaltliche Gründe. „Es ist ein Ansehensverfall erkennbar“, sagte Korte am Sonntagabend im ZDF. Die Grünen seien in einem strategischen Dilemma gefangen. „Für überzeugte Umwelt- und Klimaschützer machen sie zu sehr pragmatische Politik, für bürgerliche Wähler sind sie offenbar zu übergriffig. Insofern ist auch ein Ausweg gar nicht wirklich erkennbar.“ Neue Konkurrenz für die Grünen Konsequenter oder kompromissfähiger? Tatsächlich bröckelt der Rückhalt für die Grünen an beiden Rändern. Vorläufige Daten zeigen, dass die Partei im Vergleich zur letzten Europawahl mehr als eine halbe Million Wählerinnen und Wähler an die Union verloren hat. Und die Klimabewegung, bislang ein verlässlicher Rückhalt für die Grünen, droht politisch zu zersplittern. Die liberal-progressive Volt-Partei stellte ebenfalls den Klimaschutz in die Mitte ihres Wahlkampfs - und steigerte ihren Stimmenanteil von 0,7 auf drei Prozent. Die Abschaffung der Sektorziele im Klimaschutzgesetz sowie das Ja zu Verschärfungen in der Migrationspolitik kamen bei der progressiven Stammwählerschaft schlecht an. Gerade bei den Jungwählern zwischen 16 und 24 Jahren zeigt sich die bröckelnde Unterstützung. Dort gewannen die Grünen nur noch elf Prozent der Stimmen - 2019 waren es noch sagenhafte 34 Prozent. Stattdessen holte Volt in diesem Jahr plötzlich neun Prozent der Jungwähler, und die AfD landete gar bei 17 Prozent. Selbst bei der bis dato verlässlichsten Altersgruppe liegt also Grün plötzlich hinter Blau. Und auch am sogenannten Realo-Flügel bringen sich schon die ersten Protagonisten in Stellung. „Wir sollten uns fragen, wie wir wieder als pragmatische Kraft wahrgenommen werden, der man das Land anvertrauen möchte“, schrieb der baden-württembergische Finanzminister Danyal Bayaz auf der Online-Plattform X, ehemals Twitter. „Wie wir neue mehrheitsfähige Bündnisse für Transformation schmieden können und wie wir auch bei schwierigen Themen wie Migration oder Islamismus proaktiv Lösungen anbieten können.“ Kampf um das grüne Herzensprojekt Über Konsequenzen, auch innerhalb der Ampel-Koalition, könne man sprechen, sobald man die Zahlen genauer kenne, sagte Nouripour. Auf europäischer Ebene immerhin scheint ein Herzensprojekt der Grünen erstmal sicher: Der „Green Deal“ der EU-Kommission von Ursula von der Leyen (CDU), an dem die europäischen Grünen maßgeblich mitgewirkt haben, scheint auch im neuen EU-Parlament eine halbwegs komfortable Mehrheit zu genießen. Die einzige Sorge: Dass Kommissionspräsidentin von der Leyen im Kampf um eine zweite Amtszeit einen kleinen persönlichen Rechtsruck hinlegen könnte. In den letzten Wochen vor der Wahl hatte von der Leyen die rechte bis offen rechtsextreme EKR-Fraktion im Europäischen Parlament und vor allem die postfaschistische Partei der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni unverblümt hofiert. Für die Grünen wäre dieser Schwenk das Katastrophen-Szenario. „Für uns ist klar: Der Green Deal muss weitergehen, Rechtsstaat, Demokratie, Sicherheit in der Europäischen Union müssen beschützt werden“, sagte die deutsche Grünen-Spitzenkandidatin Terry Reintke dem Nachrichtensender Phoenix. „Das geht nur, wenn man keine Rechtsextremen in solchen Mehrheiten hat und dafür sind wir Grüne bereit, zu verhandeln.“ Nicht dass dort auch noch die Rechten vor den Grünen liegen.