Thursday, April 11, 2024

Wie die Ampel ihren ethischen Kompass verliert

WELT Wie die Ampel ihren ethischen Kompass verliert Hannah Bethke • 13 Std. • 3 Minuten Lesezeit Nach dem Selbstbestimmungsgesetz bereitet die Ampel die nächste Gesellschaftsreform vor: SPD und Grüne wollen Schwangerschaftsabbrüche aus dem Strafrecht verbannen. Damit ignorieren sie geltendes Recht, das Abtreibungen unter Auflagen zulässt – und verkaufen als Fortschritt, was ethisch fahrlässig ist. Während die Welt im Krisenmodus verharrt, schreitet der gesellschaftliche Umbau durch die Ampel-Koalition voran. Am kommenden Freitag soll das Selbstbestimmungsgesetz verabschiedet werden, das die Änderung des Geschlechtseintrags qua Selbstauskunft ermöglicht. Und schon jetzt sind einige Positionen aus der Expertenkommission bekannt geworden, die im Auftrag der Ampel über eine rechtliche Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs beraten hat. Es sieht so aus, als könnte der Wunschtraum vor allem von SPD und Grünen Wirklichkeit werden: Sie wollen Abtreibungen aus dem Strafrecht verbannen, wo sie derzeit noch unter dem Paragrafen 218a geregelt sind. Zur Erinnerung: Der Paragraf verbietet in Deutschland keine Schwangerschaftsabbrüche, sondern erlaubt sie unter bestimmten Auflagen. Das Bundesverfassungsgericht hat vor über 30 Jahren diesen klugen Kompromiss geschlossen, der die Rechte der Frauen stärkt, dabei aber nicht den Schutz des ungeborenen Lebens außer Acht lässt. Es ist deswegen übertrieben, von einer angeblich notwendigen „Entkriminalisierung“ der betroffenen Frauen zu sprechen. Sie werden gesellschaftlich nicht mehr kriminalisiert, dieser Kampf ist – zum Glück – längst gewonnen. Es ist eine erstaunliche Idiosynkrasie der Ampel, eine ganz besondere Eigenart: Sie verkündet auch dort Fortschritt, wo die Gesellschaft bereits sehr fortschrittlich ist und kein Handlungsbedarf besteht. Mit ethischen Grenzfragen geht die Koalition dagegen fahrlässig um. Individualisierung ins Absolute getrieben Vertreter der Kirche suchte man in der Expertenkommission vergeblich. Sie verwirken zwar zunehmend ihre Funktion als ethisches Korrektiv der Gesellschaft, wie eine Stellungnahme der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) vom vergangenen Herbst zeigt. So trägt die EKD den Vorstoß der Ampel zum Paragrafen 218 in wesentlichen Punkten mit. Dennoch treibt die Regierung – wohlgemerkt unter der Führung eines Kanzlers, der aus der Kirche ausgetreten ist – eine Entwicklung voran, die nicht nur Gläubigen zu denken geben müsste. Mit dem Bedeutungsverlust der Kirche schwindet das Bewusstsein für ethische Grenzen. Das zeigt sich bei der Debatte über Abtreibungen, Sterbehilfe, Organspenden und auch über das Selbstbestimmungsgesetz. Die Skrupel in all diesen lebensentscheidenden Fragen sinken in dem Maße, wie die Individualisierung der Gesellschaft ins Absolute getrieben wird. Eine Regierung muss sich der Konsequenzen ihrer Entscheidungen bewusst sein. Das ist das Mindeste, was die Bürger von ihren gewählten Repräsentanten erwarten dürfen. Auf dem Feld der Gesellschaftsreformen ist das aber erkennbar nicht der Fall. Das gilt auch für das hoch emotionalisierte Thema der geschlechtlichen Identität, dem sich die Koalition fatalerweise verschrieben hat. Das dazugehörige Selbstbestimmungsgesetz hat schon vor seinem Inkrafttreten mehr Schaden angerichtet als Nutzen gebracht. Anstatt für ein gesellschaftliches Problem zu sensibilisieren, hat die Ampel damit weite Teile der Gesellschaft gegen sich aufgebracht. Sie hätte es kommen sehen müssen, denn sie stellt damit das Selbstverständnis einer Mehrheit infrage, die auf das Thema geschlechtsbezogener Identität natürlich genauso empfindlich reagiert wie die Minderheit, die das anders definiert. Warum sollte plötzlich für alle gelten, was nur eine geringe Anzahl an Menschen betrifft? Die Ampel-Koalition darf sich über den massiven Widerstand nicht wundern, wenn sie das Demokratieverständnis derart vom Kopf auf die Füße stellt. Als „rechten Kulturkampf“ abzutun, was etwa mit Blick auf den Schutz von Jugendlichen und Kindern echte Sorgen begründet, ist weder fortschrittlich noch demokratisch, sondern ideologisch, denkfaul und politisch fahrlässig. Was die Ampel hier als gesellschaftlichen Fortschritt verkauft, demonstriert immer deutlicher vor allem eines: Sie hat ihren ethischen Kompass verloren.