Monday, April 22, 2024

Nur eine von Gysis Fragen bringt Gerhard Schröder auf die Palme

WELT Nur eine von Gysis Fragen bringt Gerhard Schröder auf die Palme Geschichte von Peter Huth • 22 Std. • 7 Minuten Lesezeit In Berlin rollt Linke-Politiker Gregor Gysi dem Altkanzler Gerhard Schröder vor Publikum den Teppich aus. Der Abend geht mit Anekdoten los und wird scharf, als es um Russland geht. Dann regte sich der Freund Putins minutenlang auf. Nach gut zweieinhalb Stunden applaudierte das Publikum mit jener Art von viel zu übertriebenem Klatschen und viel zu schrillem Kichern, das bedeutet: Leute, so schön es ist, jetzt wollen wir auch mal nach Hause. Aber Gregor Gysi, hier in einer Mischfunktion aus Fragesteller, Zeitgenosse, auf jeden Fall Noch-Besser-Wisser, wollte seine Lobrede noch zu Ende bringen. Gerhard Schröder hatte gerade selbst seinem politischen und privaten Wirken ein makelloses Zwischenfazit attestiert. Dann endlich: Männerhandschlag, Männerumarmung, Saallicht an. Seit 2017 tourt Gysi, der mutmaßlich einzige Mensch auf diesem Planeten, der wissen könnte, wo das SED-Parteivermögen steckt, mit seiner Reihe „Missverstehen Sie mich richtig“ durch Berliner Theater. Anlässlich des 80. Geburtstags von Gerhard Schröder war nun eben zu Gast. Erste Gysi-Frage: „Stört dich die Bezeichnung Altkanzler?“ Außerdem dabei natürlich ein gigantischer Elefant namens Putin, aber den übersahen die beiden Genossen geflissentlich – vorerst. Wer sieht sich derartiges an? Sagen wir so: Vom bürgerlich-bräsigen Nordberliner Stadtteil Reinickendorf, wo der Abend stattfand, fuhr das Publikum anschließend eher in Richtung Frankfurt/Oder als ins westliche Charlottenburg. Die Älteren trugen noch ihre originalen beigen Jäckchen, die Damen graues Kurzhaar und die jungen, bärtigen Männer Friedensmarsch-T-Shirts. Gelacht wurde immer, wenn es a) gegen die USA, b) gegen die derzeitige Regierung, c) gegen Israel ging – oder gegen so ziemlich alles, was einem in Pankow und Köpenick so die Sorgenfalten ins Gesicht hämmert. Verwandtes Video: Ein Fehler? Gerhard Schröder spricht über seine Freundschaft zu Putin (glomex) Die erste Hälfte des Abends war auf fürchterliche Art sehr nett. Gregor Gysi fragte chronologisch Kindheit, Jugend, Berufs- und Parteikarriere Schröders ab. Vieles wusste man schon, hörte es aber gern: Dass Schröder seine Mutter „Löwe“ nannte, selbst aber „Acker“ gerufen wurde, auf dem Fußballfeld. Dass er erst Mittlere Reife, dann Abitur auf dem zweiten Bildungsweg machte und schließlich sein Studium mit Hilfsarbeitertätigkeiten auf dem Bau finanzierte. Dazu Banalitäten wie „Was unterscheidet die Menschen aus Lippe von Rheinländern und Westfalen?“ „Wir haben nicht die Leichtigkeit der Rheinländer. Wie auch?“, so die etwas erratische Antwort des Ost-Ostwestfalen. Je butterweicher Gysi fragte, umso besser gefiel es „dem lieben Gerhard“. Der feuerte bald eine Anekdote nach der anderen ab: Wie er den beiden alten Damen – „früher nannte man das so“ –, bei denen „Löwe“ als Putzfrau arbeitete, bewies, dass sie, die Mutter, nicht log, als sie sagte, ihr Sohn sei der neue Ministerpräsident. Er ließ sich nämlich bei ihnen mit dem Dienstwagen vorfahren. Wie peinlich ihm sein Konfirmationsanzug „von einem fahrenden Händler, zu lang und zu weit“ war und dass er wahrscheinlich deshalb später so teure Anzüge getragen hätte. Wie es auf der Baustelle zuging, dass er „Bier und Schnaps“ für die Gesellen holen musste, selbst aber nicht trinken durfte – „oder nur ein bisschen, mal im Winter“, höhöhö. Schröders Karriere als Schelmenroman Und dass seine Hauptaufgabe dort im Transport von Mörtel bestand. Bei der Gelegenheit: „Sachma, Gregor, weißt du eigentlich, was datt is, Speis?“ – „Nö, keine Ahnung.“ Schröder zwinkert ins Publikum. Applaus. So richtig warm wurden die beiden nicht miteinander, vor allem auch, weil Schröder Gysi immer und immer wieder ins Leere laufen ließ, wenn der versuchte, dem Altkanzler mit ideologischen Jammerei zu kommen und dessen Herkunft – „Armut!“ – zum Motiv für seine Heldenreise zu verklären. Als Schröder beispielsweise meinte, es hätte seine soziale Stellung im Dorf verbessert, dass er gut im Sport war, meinte der Linke-Politiker: „In den USA ist das ja noch schlimmer“. Schröder trocken: „Na, schwarz waren wir nicht.“ Schröder inszenierte sein Leben als eine Art modernen Schelmenroman. Er lachte viel, auch über sich selbst, ein Schlitzohr sei er gewesen. Anwalt wurde er nicht, weil er den Armen und Unterdrückten helfen wollte, sondern, weil er die Perry-Mason-Filme so liebte, eine alte amerikanische TV-Serie, die in Göttingen offensichtlich im Kino gezeigt wurde („Wo man auch rauchen durfte und trinken. Also Flaschenbier“ ). Gysi erzählt etwas von Lothar Bisky, der in seiner Schule im Westen bitteren Hunger litt und deshalb in die DDR ging, weil es da ja „keine soziale Ausgrenzung gab“. Schröder nickt, aber er sieht es eher pragmatisch. „Was ich nie leiden konnte, war, wenn einer, der nix gemacht hatte, die Schnauze aufgerissen hat.“ Schröder, der Selfmadetyp ist ein eingehegter Darwinist. Survival für alle, aber Erfolg nur für die Fittesten. Später verteidigte er seine Hartz-IV-Reformen – und das waren die einzigen wirklich klaren politischen Statements. Ja, der Staat müsse sich um die kümmern, die „zu jung, zu alt oder zu krank sind“, diese selbst zu tun. An den Rest aber „muss man Erwartungen haben, weil man sonst die Mehrheit der Menschen verliert.“ Da ist er heute so sehr Realist wie damals, als er mit dieser Einstellung die SPD in ihren Fast-Untergang führte, sich selbst um die Kanzlerschaft brachte und Deutschland seinen besten Dienst erbrachte. Ist er überhaupt links, fragte man sich. Zur SPD sei er gegangen „wegen Willy“, das wird so hingestellt, als sei das eine Art Naturgesetz. Als Juso habe er, zuständig für „Finanzen und Kontakt zur Partei“, eben viel mit der SPD zu tun gehabt und sei dann eben so in die Politik gerutscht. Er habe immer ein gutes Verhältnis zur Wirtschaft gehabt, vom „kleinen Handwerker bis zu VW“, nie habe es ihn gestört, „Genosse der Bosse“ genannt zu werden. Im Gegenteil: Seinen Erfolg sieht Schröder auch darin verwurzelt, dass er von der Wirtschaftselite zwar nie gewählt wurde, die ihm aber harte Arbeit und Erfolge zubilligte. „Es geht“, sagte er, „darum, dass die sagen: der ist gar nicht so schlecht – das macht dich dann für andere wählbar“. So habe er Mehrheiten erreicht, die für die SPD vorher nicht denkbar waren. „Hömma“, „Sachma“, „datt“ und „watt“ Was denn damals bei der Wiedervereinigung falsch gemacht worden sei, will Gysi wissen und Schröder eine Vorlage liefern. Aber der lobt Helmut Kohl und dessen Politik, räumt ein, dass er selbst „zu skeptisch“ gewesen war mit der Wiedervereinigung, „das war falsch“. Gysi schluckt, fragt nach. Hätte man nicht – neben dem grünen Pfeil – „vier, fünf Dinge aus der DDR übernehmen können, um den Leuten das Gefühl zu geben, etwas geleistet zu haben?“ Schröder dachte nach, ihm fiel offensichtlich wenig ein. Doch er sagte: „Da hast du natürlich recht.“ Es klang, als ob er einfach höflich sein will. Schröder sprach in diesem kantigen Nuscheltonfall, den alle Brandt-Enkel von ihrem Idol abgeguckt haben. Und er sagte immer „Hömma“, „Sachma“, „datt“ und „watt“. Das simulierte Volksnähe und Klartexterei, er gab sich gegenüber Kohl und Merkel versöhnlicher als der eigenen Partei. Gysi fragte nach dem berühmten Auftritt in der Wahlnacht 2005, als er der konsternierten Gewinnerin Merkel den Sieg aberkannte. Mit „Wein“, so Schröder, habe das nix zu tun gehabt, „ich wusste, die Sache ist verloren, jetzt hauste nochmal auf den Putz“. Das kam an. Dieser Plauderschröder war nicht unsympathisch. Man hörte ihm gerne zu, er hat was, was die Menschen mögen – es ist das, was Olaf Scholz total abgeht. Viele Schrödergedanken sind von großer Schlichtheit und vor allem einer Selbstüberzeugung, die gerade nach den Schwänken und glücklichen Hineinstolpereien ziemlich deplatziert wirkten. War der Kanzler nur ein Simplicissimus? Ist es vielleicht doch das Alter – schließlich verwechselt er häufig Ereignisse, ja ganze Jahrzehnte? Eher so: Schröder, die Instinktbestie, die er immer war, nutzte die Bühne, die Gysi ihm bereitete. Mit Kalkül. Denn nach der Pause wurde das Licht angeschaltet, und der Elefant stand im gleißenden Weiß. Schröder sprach Russland sogar selbst an, schön im Sandwich zwischen zwei andere Themen versteckt. Aber Gysi hakte nicht nach, er war mehr an seinen Fahrplan gebunden, als man gedacht hätte. Schließlich brachte er Schröders Adoption zweier russischer Kinder in Verbindung mit dessen Nähe zu Putin. Das brachte den Altkanzler auf die Palme. Minutenlang echauffierte er sich („Nein, Gregor!“) über die Erwähnung der Kinder, die hätten ein Recht auf Privatsphäre, man dürfe sie nicht politisieren. Die Antworten gerieten so laut, dass Gysi wirklich erschreckt zurückwich und fast servil flüsterte, „ich wollte dich doch nur würdigen“, er sei schließlich selbst Adoptivvater. „Dann weißt du es ja“, mahnte Schröder. Das Publikum hatte er – emotionalisiert – nun komplett auf seiner Seite. Es folgte, was viele hier hören wollten. Schon für seine Ausführungen zu Gaza – „Es ist so, dass Kinder, Frauen und arme Leute die Leidtragenden sind“ – und dass „Israel wissen muss, dass es mit der Solidarität Grenzen gibt“ gab es viel Applaus. Jetzt besang er das hohe Lied des günstigen Russland-Gases, „mit dem wir gut gelebt haben.“ Seine Tätigkeit bei Rosneft und Gazprom sei absolut okay gewesen, er habe praktisch für deutsche Verbraucher-Interessen gearbeitet. Wieder Applaus. Wenn er statt für Russland für ein französisches Unternehmen gearbeitet hätte, hätte es keine Probleme gegeben sagte er – und verschwieg, dass Frankreich ja nicht die Krim besetzt und später einen barbarischen Krieg gegen die Ukraine begonnen hat. Aus der politischen Zusammenarbeit mit Putin sei eine freundschaftliche Beziehung geworden. Was „zwischen Deutschland und Russland“ passiere, sei eine „strategische Fehlentscheidung“ und es gäbe keinen Grund, die Beziehung aufzukündigen. Die Lieferung immer „neuerer und besserer Waffen“ „bringe nichts“ – Deutschland und Frankreich müssten stattdessen eine neue Friedensinitiative starten. Er sagte das, obwohl Russland gerade die Teilnahme an einer solchen Konferenz abgelehnt hat. Er sagte das, obwohl er weiß, dass Putin den Krieg, den er begonnen hat, innerhalb von einer Sekunde beenden könnte. Er sagte nicht, wie dieser Frieden aussehen könnte, dass es aber ganz einfach wäre, wenn da nicht diese geopolitischen Interessen wären – und meint natürlich die USA. Er berichtete von seiner – klaglos gescheiterten – diplomatischen Initiative, und erzählte dennoch, dass er seine guten Beziehungen zu Putin aufrechterhalten müsse, um als potenzieller Vermittler infrage zu kommen. Gysi stellte seine einzige mutige Frage des Abends. Allerdings sehr, sehr leise: „Es gibt doch Berichte über russische Kriegsverbrechen …“ Der Mann, der mal deutscher Kanzler war, schwieg und sagte dann: „Ich lese das, mehr weiß ich nicht und ich werde mich nicht an diesen Diskussionen beteiligen.“ Dann sprach Gregor Gysi noch Stichworte im Schnelldurchlauf an: Tomatenzucht, Kochen, Sumo-Ringen. Das Publikum wusste, dass der Abend gelaufen ist. Großer, befriedigter Schlussapplaus.