Tuesday, November 7, 2023

Gastbeitrag von Sönke Neitzel - Selenskyjs Armee-Chef bestätigt bittere Kriegs-Tatsache, die den Westen zum Handeln zwingt

FOCUS online Gastbeitrag von Sönke Neitzel - Selenskyjs Armee-Chef bestätigt bittere Kriegs-Tatsache, die den Westen zum Handeln zwingt Artikel von Von FOCUS-online-Experte Sönke Neitzel • 3 Std. Im Ukraine-Krieg scheint ein Patt eingetreten zu sein. Weder die Ukraine noch die russischen Invasoren verzeichnen signifikante Geländegewinne. Der Militärhistoriker Sönke Neitzel erklärt, was das für den Westen bedeutet. Es waren ungewöhnlich deutliche Worte, die der ukrainische Generalstabschef Walerij Saluschnyj unlängst im „Economist“ fand. Ein großer Durchbruch sei nicht mehr zu erwarten. Die Ukraine brauche jetzt einen Technologiesprung, um aus dem Patt herauszukommen. Man fühlt sich an das Jahr 1915 erinnert, als die Franzosen erst den deutschen Vormarsch gestoppt hatten, dann aber mit ihrer ersten Gegenoffensive in der Champagne blutig scheiterten. Niemand wusste damals so recht, wie es weitergehen sollte. Der Krieg dauerte noch drei Jahre und kostete Millionen das Leben. Armee-Chef bestätigt: Gegenoffensive ist gescheitert Der ukrainische Generalstabschef bestätigte in seinem Gastbeitrag, was eigentlich jeder sehen konnte, der sehen wollte: die Gegenoffensive, in die so viel Hoffnung gelegt wurde, ist gescheitert. Warum das so ist, ist nicht schwer zu ergründen: die mangelnde numerische Überlegenheit, die Unterlegenheit in der Luft, die lange Vorbereitungszeit, die die russischen Streitkräfte nutzten, um sich zwischen Dnjepr und Wuldedahr tief gestaffelt einzugraben, die hohen Verluste, die der ukrainischen Armee schwer zusetzten, die allzu kurze Ausbildungszeit der neuen Verbände. Auch die zögerlichen Waffenlieferungen des Westens, die zudem nie im versprochenen Umfang erfolgten, verminderten die Erfolgschancen. In den Generalstäben der NATO-Staaten werden die Kriegserfahrungen aufmerksam ausgewertet und man fragt sich, ob es in Zukunft überhaupt noch einen Bewegungskrieg wird geben können. An der Front wird jede Bewegung mit gepanzerten Verbände sofort aufgeklärt und mit Artillerie, Hubschraubern und Drohnen zerschlagen. Auch deutsche, französische oder britische Panzerbrigaden wären an den Aufgaben gescheitert, vor denen die ukrainischen Verbände standen. Erleben wir also eine Revolutionierung des Krieges? Skepsis ist angebracht. Jede neue Entwicklung, so revolutionär sie sich zunächst auch anfühlte, rief eine Antwort hervor. Das war bei der Einführung der Armbrust nicht anders als bei den Feuerwaffen, der Artillerie oder dem Flugzeug. Wie die Antwort auf die Drohnenschwärme und den modernen Artilleriekrieg aussehen wird, ist noch nicht absehbar – und auch nicht, ob sie schon in diesem Krieg gefunden wird. Dem Westen bleiben vier Optionen Was folgt aus alledem? Der Westen darf sich nicht länger hinter Worthülsen verstecken. „Die Ukraine muss den Krieg gewinnen“, sagten Annalena Baerbock, und viele andere. Natürlich wäre es dem Westen mit seiner großen Wirtschaftskraft möglich, Russland in einem Rüstungswettlauf zu überflügeln. Doch offensichtlich sind weder die Bundesregierung noch die anderen Staaten des Westens – einschließlich der USA – dazu bereit. Wenn man aber im konventionellen Bereich nicht all-in gehen will, um einen schnellen Erfolg zu erzwingen, ist die Konsequenz im besten Fall ein langer, viele Jahre dauernder Kampf der Ukraine. Dafür muss Kiev dauerhaft mit umfangreichen Waffenlieferungen unterstützt werden – in der Hoffnung, dass Russland eines Tages aufgibt oder zusammenbricht. Die dritte Option sind Verhandlungen. Mehr als ein Waffenstillstand auf der derzeitigen Frontlinie wird dabei in der momentanen Lage kaum zu erreichen sein. Ob sich Russland überhaupt darauf einlässt, ist fraglich, da Putin zweifellos davon ausgeht, am längeren Hebel zu sitzen. Auch Kiev scheint zu einem solchen Schritt (noch) nicht bereit zu sein. Aussicht auf Erfolg hat ein solches Unterfangen ohnehin nur, wenn der Westen der Ukraine weiter massiv unter die Arme greift. Das letzte Szenario sollte auch nicht außer Betracht gelassen werden: die Ukraine verliert. Niemand kann ausschließen, dass es den russischen Streitkräften im Kampf gegen eine vom Westen nur noch halbherzig unterstützte Ukraine doch noch ein entscheidender Erfolg gelingt, der den Staat zusammenbrechen lässt. Die Folgen wären verheerend. Millionen Flüchtlinge würden sich auf den Weg machen und das Signal an alle Autokraten dieser Welt wäre, dass es sich lohnt Krieg zu führen. Sicherheitspolitisch würde damit eine ganz neue Bedrohung für Europa entstehen. Endlich dämmert es der deutschen Politik Dieser Tage dämmert es der deutschen Politik, dass der Krieg nicht einfach vorbeigehen wird, wie ein böser Traum. Er kann auch in einer Katastrophe enden. Boris Pistorius ist der erste Politiker von Rang, der den Mut hat, die auf der Hand liegenden Konsequenzen auszusprechen. Er fordert, dass wir kriegsfähig werden müssen, um unser Europa verteidigen zu können. Der Realität ins Auge zu blicken ist ein erster wichtiger Schritt, um die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Doch wird der Verteidigungsminister beim Kanzler durchdringen? Das ist mehr als fraglich. Olaf Scholz ist nun wahrlich kein Winston Churchill.