Tuesday, April 5, 2022
Ukraine-Krieg: Nach Gräueltaten in Butscha: EU verschärft Sanktionen
Handelsblatt
Ukraine-Krieg: Nach Gräueltaten in Butscha: EU verschärft Sanktionen
Greive, Martin Hildebrand, Jan Koch, Moritz Specht, Frank Stratmann, Klaus Volkery, Carsten Wermke, Christian - Gestern um 08:03
Brüssel bereitet neue Sanktionen gegen Russland vor. Damit rückt ein Importstopp für Kohle näher. Einen Boykott von Gaslieferungen lehnt Berlin dagegen weiter ab.
Das Vorgehen der russischen Armee in dem Vorort von Kiew löste international Entsetzen aus.
Als Reaktion auf die mutmaßlichen Gräueltaten des russischen Militärs in der Ukraine bereiten die EU-Staaten eine Verschärfung der Sanktionen vor. Diese könnten erstmals auch russische Energielieferungen treffen. „Die Hoffnung ist, dass die Bilder aus der Ukraine Deutschland zu einem Umdenken bewegen“, sagte ein EU-Diplomat dem Handelsblatt.
Über einen Stopp für Energieimporte aus Russland wird seit Wochen diskutiert. Bisher lehnt die Bundesregierung ein sofortiges Embargo auf Gas- und Öllieferungen aus Russland ab und wird in dieser Haltung von Österreich und Ungarn gestützt.
Ein Kompromiss, der als zunehmend wahrscheinlich gilt, wäre es, zunächst einen europaweiten Einfuhrstopp für russische Steinkohle zu verhängen, wie das Handelsblatt in EU-Kreisen erfuhr. Schon Mittwoch könnte die Kommission den Mitgliedstaaten einen entsprechenden Vorschlag vorlegen.
Für die Bundesregierung wäre ein Kohleembargo einfacher zu akzeptieren als ein Handelsverbot für russisches Gas und Öl. Nach Angaben von Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) will Deutschland die Kohleimporte ohnehin „bis Sommer“ überflüssig machen.
Kommissionschefin Ursula von der Leyen hatte zuletzt die Vorstellungen der Mitgliedstaaten abfragen lassen. Ihr Vize Valdis Dombrovskis betonte: „Nichts ist vom Tisch.“ Kanzler Olaf Scholz (SPD) hatte nach den Berichten über Massaker im Kiewer Vorort Butscha „weitere Maßnahmen“ gegen Russland angekündigt. Auch US-Präsident Joe Biden erklärte, er werde „weiter Sanktionen“ verhängen.
Druck auf Bundesregierung wächst
Vier Sanktionspakete hat die EU schon beschlossen, das fünfte soll noch diese Woche folgen. Ursprünglich sollten damit vor allem Schlupflöcher gestopft und Exportkontrollen ausgeweitet werden, etwa um russische Firmen, die Rüstungshersteller beliefern, von dringend benötigten technologischen Vorprodukten abzuschneiden. Die Bilder der Gräueltaten verstärken nun den Ruf nach härteren Maßnahmen.
Was in Butscha passiert sei, erfordere neue Sanktionen, sagte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Nach seinen Worten sollten diese auch die russische Kohle- und Ölindustrie treffen. Sogar das besonders von russischem Gas abhängige Italien kündigte an, entsprechende Sanktionsbeschlüsse nicht blockieren zu wollen. „Wir haben noch nie ein Veto gegen Sanktionspakete jeglicher Art eingelegt und werden auch kein Veto einlegen“, erklärte Außenminister Luigi di Maio.
Damit nimmt der internationale Druck auf die Bundesregierung immer weiter zu. Deutschland sei das Haupthindernis für schärfere Maßnahmen, kritisierte der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki.
Doch Berlin bleibt bisher bei der Abwehrhaltung. Bundeswirtschaftsministerium, Industrie und Gewerkschaft haben sich gemeinsam gegen ein Gasembargo gegen Russland positioniert. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ zitiert aus einem Papier des Bündnisses „Zukunft der Industrie“, in dem es heißt: „Ein sofortiger Stopp der Energielieferungen aus Russland hätte gravierende Auswirkungen auf Menschen und Wirtschaft in ganz Europa, gerade auch auf die Industrie und ihre Beschäftigten.“
Habeck hatte zuletzt sogar auf die Gefahr hingewiesen, mit einem Einfuhrstopp den sozialen Frieden zu gefährden. Allerdings stellt sich die Frage, wie lange der Minister seinen Kurs angesichts der Schreckensnachrichten aus der Ukraine noch halten kann.
Auch innenpolitisch stößt die Bundesregierung auf wachsenden Widerstand. Aus der Grünen-Bundestagsfraktion gibt es Forderungen nach einem Importstopp, etwa von Außenpolitiker Jürgen Trittin, der ein Abschalten der Ölpipeline nach Schwedt forderte.
Berlin will militärische Hilfe für Ukraine verstärken
Anton Hofreiter, langjähriger Fraktionschef der Grünen-Fraktion und heute Vorsitzender des Europaausschusses des Parlaments, fordert einen umfassenden Energieboykott: „Wir überweisen Tag für Tag Hunderte Millionen Euro nach Moskau. Damit werden der russische Staat und sein Militärapparat am Laufen gehalten.“ Hofreiter weiter: „Schluss mit Kohle, Gas und Öl aus Russland.“ Technisch sei ein solcher Schritt möglich und wirtschaftlich verkraftbar. Die FDP-Jugendorganisation Junge Liberale spricht sich ebenfalls für ein „schnellstmögliches Energieembargo“ aus.
Video: EU verschärft wegen Ukraine-Kriegs Sanktionen gegen Russland und Belarus (AFP)
In der Bundesregierung zeigt der Druck mittlerweile Wirkung. So wird neben einem früheren Verzicht auf russische Kohlelieferungen darüber nachgedacht, ob schrittweise Beschränkungen beim Ölimport möglich wären. „Wir arbeiten ja an der Unabhängigkeit von russischem Öl und von Kohle und Gas“, bestätigte Habeck. Es gebe jeden Tag Schritte zu einem Embargo.
Mit dem Verweis auf die kontinuierliche Reduzierung der Abhängigkeit von russischer Energie will die Bundesregierung offenbar aus der Defensive kommen. Zudem will Deutschland die militärische Hilfe für die Ukraine weiter erhöhen.
Habeck, dessen Ministerium Rüstungsexporte genehmigen muss, bekräftigte am Montag eine entsprechende Ankündigung von Kanzler Scholz. „Die Lieferung von militärischem Gerät und Waffen sollte meiner Auffassung nach uneingeschränkt und in großem Umfang fortgesetzt werden“, sagte er. „Immer mit der Grenze, dass wir nicht selbst Kriegspartei werden dürfen.“
Finanzminister Christian Lindner (FDP) sprang dem grünen Koalitionspartner am Montag bei, ein Gasembargo gegen Russland lehnte auch er ab. „Gas ist kurzfristig nicht substituierbar“, sagte der FDP-Politiker beim Treffen der Euro-Gruppe in Luxemburg. Die EU müsse „den Druck auf Putin erhöhen, ohne uns selbst zu schwächen“.
Deutschland wolle schnellstmöglich unabhängig von russischer Energie werden, man unterstütze weitere Sanktionen. Da der Übergang bei Gas, Öl und Kohle aber unterschiedlich lange dauere, müsse man die drei Brennstoffe getrennt betrachten.
Isoliert ist Deutschland im EU-Kreis nicht, andere Länder verstecken sich hinter der Bundesregierung, von einer „schweigenden Mehrheit“ der Energiesanktionsgegner sprachen Diplomaten. Mit den Italienern könnte nun aber ein wichtiger Verbündeter wegfallen. „Wie viele Butschas braucht es noch für ein volles Gas- und Ölembargo? Die Zeit ist vorbei“, twitterte der Ex-Premier und heutige Chef der Sozialdemokraten, Enrico Letta.
Zuvor hatte Regierungschef Mario Draghi vor der Auslandspresse in Rom dargelegt, dass Deutschland, Italien und andere Länder, die Gas, Öl, Kohle, Weizen und Mais aus Russland importieren, Russlands Krieg finanzieren: „Daran besteht kein Zweifel.“
Draghi brachte erneut einen Preisdeckel der EU für importiertes Gas ins Spiel. Dies würde die Einnahmen für Moskau sofort reduzieren. Auch über eine Strafsteuer auf russische Gaslieferungen wird in Brüssel diskutiert. Die Idee dahinter ist, Russland künftig weniger Geld für Gasimporte zu überweisen.
Da russische Exporteure wie Gazprom Lieferungen nicht einfach in andere Länder umleiten können, sondern auf die bestehenden Pipelines nach Westeuropa angewiesen sind, könnte der Plan zumindest theoretisch aufgehen. Aus russischer Sicht wären geringere Einnahmen besser als gar keine. Dennoch ist die Sorge groß, dass Russland auf eine Strafsteuer oder einen Preisdeckel mit einem Lieferstopp reagieren würde.
Der Grünen-Wirtschaftspolitiker Felix Banaszak zeigt deshalb Verständnis für das vorsichtige Agieren der Bundesregierung, gerade beim Thema Gas: „Ich verstehe den Wunsch, alles zu tun, was man tun kann. Aber die Auswirkungen eines Embargos auf die Industrie und damit auf uns alle werden nach meiner Einschätzung massiv unterschätzt“, sagte Banaszak dem Handelsblatt. „Es geht um mittel- und langfristig unterbrochene Lieferketten, es geht um massive Schäden an komplexen Produktionsanlagen, um die Versorgung mit zentralen Gütern. Die Folgen sind kaum absehbar und mit Prozentzahlen zu BIP-Einbrüchen abstrakt nicht zu beziffern“, sagte er.
Mehr zu Sanktionen gegen RusslandSanktionen: Wie Leasingfirmen versuchen, ihre Jets in Russland zurückzubekommen
Die Kosten des Wirtschaftskriegs gegen Russland werden zum Härtetest für den Westen
Russland steht vor der schlimmsten Wirtschaftskrise seit dem Zerfall der Sowjetunion
So will Indien trotz Sanktionen mit Russland Geschäfte machen Zudem warnt Banaszak, ein Embargo würde die Transformation der Wirtschaft „massiv erschweren“. Die Stahlindustrie sei darauf angewiesen, ihre neuen Anlagen mit Erdgas zu betreiben, solange Wasserstoff noch nicht in ausreichender Menge zur Verfügung stehe.
Die Strategie der Bundesregierung scheint darauf ausgerichtet zu sein, ihre Kritiker mit einer Ausweitung der Waffenlieferungen an die Ukraine zu besänftigen und so das Thema der deutschen Gasabhängigkeit in den Hintergrund zu drängen. Doch auch damit hat Berlin nur mäßigen Erfolg. Die ukrainische Regierung begrüßt die Unterstützung zwar, fordert aber auch schweres Gerät, das Deutschland nicht liefern will.
Die Opposition wirft der Ampel Zögerlichkeit vor. „Die Bundesregierung unterstützt die Ukraine viel zu wenig“, sagte der CDU-Bundestagsabgeordnete und stellvertretende Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Henning Otte, dem Handelsblatt. Offenbar seien sich die drei Koalitionäre nicht einig, welchen Beitrag Deutschland leisten solle. „Dadurch geht der Ukraine viel wertvolle Zeit verloren.“