Friday, April 1, 2022
Terrorismus in Israel: Israels neue Angst vor Islamisten
ZEIT ONLINE
Terrorismus in Israel: Israels neue Angst vor Islamisten
Steffi Hentschke - Vor 5 Min.
Nach drei Anschlägen binnen weniger Tage ist Israels Sicherheitsgefühl erschüttert. Denn sie zeigen, dass bisherige Strategien gegen den Terror nicht mehr helfen.
Elf Menschen wurden bei insgesamt drei Anschlägen innerhalb einer Woche in Israel ermordet. Mit jeder Tat ist auch eine Gewissheit zerstört worden: Auch 20 Jahre nach der zweiten Intifada, der bisher schwersten Serie von Anschlägen, ist Israel nicht vor Terror sicher.
Das Land sei "mit einer mörderischen arabischen Terrorwelle konfrontiert", sagte Ministerpräsident Naftali Bennett nach dem bisher schwersten Attentat am Dienstagabend in Bnei Brak. Dabei war ein Palästinenser mit einem Maschinengewehr durch die Straßen gelaufen und hatte Passenten erschossen – und das in einem Land, in dem sogar vor jedem Einkaufszentrum die Tasche zur Sicherheitskontrolle vorgezeigt werden muss. Wie konnte das passieren?
Um diese Frage beantworten zu können, muss man die Taten und die Attentäter genauer betrachten. Zunächst, am Dienstag vor einer Woche, erstach ein Beduine in Beersheba im Süden Israels vier Menschen. Am Sonntag die zweite Tat, in der Küstenstadt Hadera im Zentrum Israels erschossen zwei arabische Israelis zwei Polizisten, die auf die Attentäter aufmerksam geworden waren. Nach dem Attentat am Sonntag tauchte ein Bekennerschreiben auf einer IS-nahen Website auf. Wie mittlerweile bekannt ist, versuchte einer der Täter von Hadera 2016 über die Türkei nach Syrien auszureisen. Dort wollte er sich dem "Islamischen Staat" anschließen. Dank eines Tipps des israelischen Geheimdienstes stoppten die türkischen Behörden aber den Mann, zurück in Israel wurde er zu einer Haftstrafe verurteilt – und verschwand dann wieder vom Radar der Sicherheitsdienste. Auch bei dem ersten Attentäter wird eine Nähe zum IS vermutet. Der Attentäter vom Dienstag in Bnei Brak, ein Palästinenser aus dem von Israel besetzten Westjordanland, soll mit der Terrorgruppe Islamischer Dschihad und der Hamas sympathisiert haben. Auch er saß bereits in einem israelischen Gefängnis – auch er war der Aufmerksamkeit der Behörden wieder entglitten.
Unterschätztes Problem: zu viele illegale Waffen im Land
"Die Täter wirken wie einsame Wölfe, Islamisten, die wir bisher eher aus Europa kennen", sagt Harel Chorev, Historiker an der Universität Tel Aviv und Experte für die Beziehungen zwischen jüdischen und arabischen Israelis. Chorev konzentriert sich in seiner Analyse auf die Attentäter von Hadera: Sie hätten ihre Tat lange und im Stillen vorbereitet, keine Spuren im Internet hinterlassen, mit dem Anschlag in Beersheba aber den richtigen Moment gefunden. Von ihrer Tat dann sei der Attentäter von Bnei Brak inspiriert worden – und von der könnten sich nun weitere angestachelt fühlen. "Das ist ein neuer Typ Islamist, auf den die Sicherheitsbehörden bisher nicht vorbereitet waren", sagt Chorev. "Dazu kommt, dass diese Terroristen von einem lange unterschätzten Problem in Israel profitieren. Wir haben zu viele illegale Waffen im Land."
Die beiden Attentäter von Hadera stammen aus dem sogenannten Triangle, einer überwiegend von arabischen Israelis bewohnten Region im Norden Israels. Seit mehreren Jahren nehmen dort organisierte Kriminalität und Gewalt zu. Allein 2021 wurden 126 Menschen getötet. Die neue Regierung, an der mit Mansour Abbas auch eine arabische Raam-Partei beteiligt ist, bemüht sich zwar um mehr Polizei und mehr Geld für die betroffenen Gegenden. Wie die Anschläge aber zeigen, scheint sich das Problem mit der Kriminalität längst mit der Terrorgefahr vermischt zu haben. "Im Norden des Triangle beobachten wir eine Radikalisierung der islamistischen Bewegung, der Partei, zu der auch Mansour Abbas gehört", sagt der Experte Chorev.
20 Prozent der rund neun Millionen Israelis gehören der arabischen Minderheit an. Sie hat Mansour Abbas direkt nach dem ersten Anschlag aufgefordert, klare Position gegen die Taten zu beziehen, die den Islam beschmutzten. Für ihn, für die gesamte Regierung aus acht Parteien, bedeuten die Anschläge die bisher größte Belastungsprobe. Ministerpräsident Bennett setzte zuletzt auf eine Entspannung mit den Palästinensern, mehr Arbeitsgenehmigungen für die Menschen aus Gaza zum Beispiel. Wie die israelische Zeitung Haaretz berichtet, soll Bennett sich in einem Telefongespräch mit US-Präsident Joe Biden am Mittwoch darüber beklagt haben, dass die Palästinenser undankbar seien – und seine Bestrebungen nicht zu schätzen wüssten. "Mit voller Härte" will er jetzt gegen den Terror vorgehen. Die Frage aber bleibt: wie?
Extremismus, der nichts mit der Besatzung zu tun hat
"Diesen neuen Terroristen geht es um ihre islamistische Ideologie, ihr Extremismus hat nichts mit der Besatzung zu tun", sagt der Experte Chorev und vielleicht erklärt das am besten, warum sich die Anschläge nicht verhindern ließen. Denn Israels bisherige Strategien im Kampf gegen den Terror greifen nicht – Checkpoints zum Westjordanland schließen, Arbeitsgenehmigungen kassieren, die Militärpräsenz im Westjordanland aufstocken. Drei der vier Terroristen sind israelische Staatsbürger, keine Kollektivstrafe gegen die Palästinenser als Reaktion auf die Anschläge könnte Männer wie die drei von weiteren Taten abhalten.
Entsprechend bringt es auch wenig, den Fokus zu sehr auf die Frage zu legen, warum die Anschläge gerade jetzt passieren – und ob das mit dem am Wochenende beginnenden Ramadanfest zu tun hat. Die Frage ist, ob es weitere unentdeckte Islamisten innerhalb Israels Grenzen gibt, die sich bisher unter dem Radar der Sicherheitsbehörden bewegen konnten. Wie es aus israelischen Medien heißt, werden die Geheimdienste Monate brauchen, um ein klares Lagebild zu bekommen. Bis dahin sollen bis zu 1.000 Grenzpolizistinnen und -polizisten zusätzlich innerhalb der großen Städte Israels stationiert werden, um zumindest ein Gefühl von Sicherheit zu geben. Eine Sicherheit, die es seit den Anschlägen vergangene Woche nicht mehr gibt.