Sunday, April 10, 2022
Hauptsache alle gegen Russland: Der Feindbildaufbau des Soziologen Armin Nassehi
Hauptsache alle gegen Russland: Der Feindbildaufbau des Soziologen Armin Nassehi
Berliner Zeitung
Marcus Klöckner - Vor 15 Std.
Versehen mit der Dachzeile „Demokratie“ hat Armin Nassehi unter der Überschrift „Die Rückkehr des Feindes“ einen Beitrag verfasst, der wohl als grundlegend zu verstehen ist. „Unsere Demokratie“ im Spannungsverhältnis zum Angriffskrieg Russlands ist das Thema. Am Ende seines Beitrags zieht Nassehi den Schluss: „Wir haben wieder einen Feind, der den Blick auf uns selbst lenkt. Nehmen wir ihn intellektuell an.“
Der Feind, das ist eindeutig, soll Putin und Russland sein. Mit der Stimme des Soziologen, der sich anmaßt, für die Gesellschaft zu sprechen, wählt Nassehi die erste Person Plural. „Wir“, also die Leser, und unsere gesamte Gesellschaft haben in der Vorstellungswelt Nassehis „wieder einen Feind“.
Armin Nassehi ist Professor an der Ludwig-Maximilian-Universität in München. Er ist unter anderem in der politischen Soziologie beheimatet. Als gestandener Soziologe verfügt er über Werkzeuge und Wissen, um Demagogie nicht auf den Leim zu gehen.
In dem Zeit-Text hat der Konflikt zwischen Russland und dem Westen, hat der Streit um die Ukraine keinen Unterbau. Beim Lesen entsteht der Eindruck, Europa und die Welt kamen zu diesem Krieg wie die Jungfrau zum Kinde. Ein Krieg als eine Art Akt der unbefleckten Empfängnis. Europa und die Welt dürfen ihre Hände in Unschuld waschen. Putin hat – der Rolle eines bösen Gottes gleich – den Krieg einfach vom Himmel geworfen.
Das ist falsch. Dieser Krieg ist der sichtbare Ausdruck einer Vorgeschichte. Nassehis Rechnung aber geht wie folgt: Russland hat die Ukraine angegriffen. Also ist Russland der Feind. Wenn dem so ist: Was ist mit den Staaten, die, zum Beispiel, einen Angriffskrieg gegen den Irak geführt haben? Sind das nun auch unsere Feinde? Zweierlei Maß und Doppelmoral werden offensichtlich.
Die Osterweiterung der Nato, die Einmischungen der USA in die politischen Angelegenheiten der Ukraine – man denke nur an das abgehörte Telefonat zwischen der Diplomatin Victoria Nuland und dem amerikanischen Botschafter in Kiew –, das Agieren der CIA in der Ukraine, das Verbrechen in Odessa, der Krieg gegen die russische Bevölkerung im Donbass, die Politik des Regimewechsels: All das und noch viel mehr gilt es bei der Analyse zu erfassen.
Wird dieser Schritt so vollzogen, wie es eine wissenschaftliche Analyse verlangt, das heißt ohne ideologische Verblendung, lautet die Erkenntnis: Die Ukraine ist zum Machtobjekt der USA und Russlands geworden. Sowohl die USA als auch Russland haben ein massives geostrategisches Interesse an dem Land. Den USA geht es um eine Schwächung Russlands, Russland will die Nato daran hintern, die Ukraine an sich zu binden. Putins Krieg gegen die Ukraine ist ein Angriffskrieg. Der schwere Völkerrechtsbruch ist evident. Auf diese politikwissenschaftlichen Erkenntnisse, die in ihrer Herleitung und Darlegung hier nur holzschnittartig angeführt werden, kann der Ansatz einer kritischen politischen Soziologie folgen. Sie rückt unter Berücksichtigung auch der allgemeinen Stimmungsmache gegen Russland, die seit Jahren zu beobachten ist, unter anderem folgende Fragen ins Zentrum.
Woher kommen Wahrnehmungs- und Denkschemata, die zum Aufbau des Feindbildes Russland beitragen? Welche Sozialisation haben Personen, die auf die eine oder andere Weise an dem Feindbildaufbau beteiligt und die in Medien, Politik und Wissenschaft zu finden sind, erfahren? Welche „Denkschulen“ haben sie durchlaufen? In welche Denkfabriken und Elitezirkel sind sie eingebunden? Welche Antriebe ihres Habitus können ausgemacht werden, die möglicherweise dazu führen, dass sie sich in Sachen Russland an einer sehr schlichten Realitätsvorstellung ausrichten? Warum bemühen sie unentwegt das Narrativ vom „bösen Russland“ und dem Unschuldslamm Nato? Wer von diesen Personen, die seit Jahren Russland als Feind betrachten, macht das aus innerer Überzeugung? Wer agiert als bewusst handelnder Teil westlicher Propaganda gegen Russland?
Nassehi beschreitet einen anderen Weg: „Spätestens seit der Nacht auf den 24. Februar 2022 ist die westliche Demokratie keine feindlose Demokratie mehr. (…) Dieser Feind muss ein Feind genannt werden (…) Und dieser Feind ist auch Feind, weil er in seinem Inneren all jene, die in die Lücken der Ergebnisoffenheit stoßen und in Alternativen denken, wegsperrt, umbringt, erpresst.“
Nassehi verknüpft seine Feindbilderzählung mit dem gefälligen Narrativ von den funktionierenden westlichen Demokratien. Vorsicht ist angebracht. Die westlichen Demokratien im Sinne eines naiven, demokratietheoretischen Wirklichkeitsverständnisses zu denken, wird der Realität genauso wenig gerecht, wie Russland als „unseren Feind“ zu betrachten.
Zur Frage, wie „ergebnisoffen“ die westlichen Demokratien faktisch und nicht nur auf dem Papier sind, kann die Soziologie einiges sagen – vorausgesetzt, man will sie sprechen lassen. 1956 veröffentliche der amerikanische Soziologe C. Wright Mills eine Grundlagenstudie zur amerikanischen Machtelite, die zur kritischen Erfassung realer Machtverhältnisse in den USA hilfreich war. Seine Analysen waren im Hinblick auf die Litanei, die an Schulen und Universitäten hoch und runter vorgetragen wird, vernichtend und in Teilen auch übertragbar auf andere westliche Demokratien. „Wir“ leben in einer „Demokratie“. „Wir“ alle haben „eine“ Stimme. Die Macht liegt beim Volk. Glaubenssätze, die in vielen Köpfen längst zu Wahrheiten geworden sind – nicht einmal mehr vorgeblich kritische Soziologen hinterfragen sie.
Formaldemokratisch gibt es in den westlichen Systemen „prinzipiell offene“ Entscheidungsprozesse. Doch wie verhält es sich mit diesen offenen Prozessen, wenn faktische Machtungleichgewichte die formalen Grundlagen untergraben? Wer wollte ernsthaft behaupten, dass aufgrund der formalen Gleichheit bei Wahlen der Müllmann in der Praxis politisch so viel Einfluss nehmen kann wie der Philanthrop, der über seine mit einem Millionenbudget ausgestattete Denkfabrik in den politischen Diskurs eingreift?
Das sind banale Erkenntnisse. Für sie muss nicht einmal die Machtstrukturforschung, ein Zweig der Soziologie, bemüht werden. Schon der Mann „auf der Straße“ weiß oft um die Augenwischereien, wenn es um demokratische Versprechen und reale Machtverhältnisse geht. Sein Bauchgefühl trügt nicht. Die Machtstrukturforschung liefert dann, soziologisch-empirisch gestützt, Beweise für die manchmal eher diffuse Annahme, dass es mit der beschworenen „Ergebnisoffenheit“ nicht so weit her ist.
Die Machtstrukturforschung kann aufzeigen, wie weitreichend den demokratischen Institutionen vorgelagerte politische Formierungsprozesse von Eliten und Machteliten sind. Zu den großen Lebenslügen mancher Sozialwissenschaftler gehört es, an einem Demokratieverständnis festzuhalten, das einer kritischen Realitätsprüfung nicht standhält.
Die Welt steht nahe am 3. Weltkrieg und Nassehi redet von „kybernetischen Rückkopplungsschleifen der öffentlichen Meinung“, vor der sich Putin fürchte – ganz so, als würden sich Politiker bei uns nicht auch davor fürchten; ganz so, als sei nun ein guter Zeitpunkt für die Soziologie, die Systemtheorie von Niklas Luhmann ins Feld zu führen und über die Autopoiesis zu referieren. Doch selbst Luhmann, der mit seiner Systemtheorie vielen völlig abgehoben und realitätsfremd vorkommt, hat gezeigt, dass im politischen System die Leitdifferenz zwischen „Macht“ und „keine Macht“ besteht.
In Nassehis Essay kommt der Begriff „Feind“ 16 Mal alleine oder zusammengesetzt vor. Der Begriff „Macht“ findet sich darin genau nullmal. Das ist charakteristisch für den Differenzierungsgrad und die handwerkliche Qualität des gesamten Textes.
Die Ukraine ist zu einem Frontstaat im Kampf zwischen Russland und der Nato geworden. Der ewige Kampf zwischen den Supermächten wird seit Jahrzehnten mehr oder weniger verdeckt geführt. Korea, Vietnam, der blutige Bürgerkrieg in Angola, Afghanistan, Syrien: Stellvertreterkriege. In der Ukraine ist die indirekte Auseinandersetzung zwischen Russland und dem „Verteidigungsbündnis“ deutlich sichtbar. Zu einer direkten Konfrontation fehlt nicht viel.
Wir als Gesellschaft sind in einer drohenden Kriegssituation und in großer Gefahr. Intellektuelle, ja kluge Politikwissenschaftler und Soziologen haben in diesen Zeiten Machtpolitik, genauso wie geostrategische Machtinteressen, bloßzustellen – auch die des Westens. Nassehi wünscht sich hingegen in dieser Situation, dass sich unsere Demokratie „politisiere“. Was genau er damit meint, bleibt in dem Text eigenartig unbestimmt. Fehlt ihm der Mut auszusprechen, was er denkt? Dem Leser bleibt nur Spekulation: Wie soll diese „Politisierung“ unserer Demokratie in Deutschland konkret aussehen? Sollen die Bundesbürger „endlich“ das Feindbild Russland internalisieren, sich bewaffnen und Richtung Osten marschieren?
„Kaum ein sacrificium intellectus ist zu abstrus. Auch nicht die alte Geschichte von der angeblichen Bedrohung durch die Osterweiterung der Nato – die offensichtlich ein Segen ist, denn dadurch wird die Offensive Moskaus wohl kurz hinter Lwiw zum Stillstand kommen und nicht erst bei Słubice.“ Auch diese Zeilen sind dem Essay entnommen. Dass Russland überhaupt erst aufgrund des „Expansionsdrangs“ der Nato in die Ukraine einmarschiert ist, wird offensichtlich nicht in Betracht gezogen.
Wäre Putin – mit all den negativen Auswirkungen, die sein Handeln für sich und sein Land haben würde – auch ohne die Ereignisse von 2014 und der acht Jahre langen folgenden Kompromisslosigkeit des Westens am 24. Februar dieses Jahres in die Ukraine einmarschiert? Daran glauben wohl nur ewige Russlandhasser.
Nassehis Essay ist – man muss es leider so ausdrücken – geprägt von einem intellektuellen und soziologischen Dilettantismus. Das einseitige Feindbild hält einer kritischen Betrachtung nicht stand. Das Demokratieverständnis, das in dem Text zum Vorschein kommt, ist in seiner Eindimensionalität schlicht falsch. Das Letzte, was unsere Gesellschaft tun sollte, ist einen Feind, den es so nicht gibt, „intellektuell anzunehmen“. Was Europa, genauso wie die Ukraine, dringend braucht, ist Frieden. Soziologen können dabei behilflich sein. Dazu müssen sie die Fakten von der Ideologie trennen und nicht noch weiter miteinander verrühren. Soziologen setzen dem Krieg ihre intellektuellen Waffen entgegen. Ideologen betreiben Feindbildaufbau. Nassehi hat seinen Essay vermutlich aus Überzeugung verfasst. Das darf er. Überzeugung sollte aber nicht in Ignoranz enden. Denn am Ende fällt die Atombombe auf die Köpfe von uns allen.