Friday, April 8, 2022

Hat jeder Russe eine Mitschuld am Krieg gegen die Ukraine?

Hat jeder Russe eine Mitschuld am Krieg gegen die Ukraine? Berliner Zeitung Alexander Dubowy - Gestern um 15:17 Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine geht bereits in die siebte Woche und eine baldige diplomatische Lösung zeichnet sich nicht ab. Vielmehr scheint der Friedensverhandlungsprozess zwischen beiden Staaten zu stocken, der Rahmen für Kompromisse schwindet zusehends, die Positionen verhärten sich angesichts zunehmender Gewaltakte gegen die ukrainische Zivilbevölkerung, und ein Ende der Eskalation ist noch nicht einmal ansatzweise absehbar. Am 7. April 2022 sprach Kremlsprecher Dmitrij Peskov in einem Live-Interview gegenüber Sky News mit Mark Austin über die aktuellen Entwicklungen in der Ukraine. Die Antworten Peskovs ermöglichen tiefe Einblicke in die eigentümlichen Erfahrungswelten der russischen Führung. So versuchte Peskov, die Beweggründe Moskaus für den Angriffskrieg gegen die Ukraine darzulegen und behauptete unter anderem, dass der Geschichtslauf der Ukraine im Jahr 2014 durch einen „illegalen Putsch“ entscheidend verändert wurde. Ab diesem Zeitpunkt schwenkte die Ukraine auf einen antirussischen Entwicklungspfad ein. Nachdem sich Moskau ohnehin seit Jahrzehnten um die Aufrechterhaltung der eigenen Sicherheit besorgt zeige, konnte eine derartige potentielle Sicherheitsbedrohung nicht geduldet werden, so Peskov. Auch bestätigte der Kremlsprecher die Entmilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine als die offiziellen – vom Präsidenten Wladimir Putin ausgegebenen – Zielsetzungen. Zwar verneinte Peskov die Frage, ob in Anbetracht der hohen Zahl an verlorenen Truppen die Kriegsentwicklung als eine Demütigung für Russland zu werten sei, jedoch gab er die erheblichen Verluste an Truppen und Gerät zu und bezeichnete sie als eine große Tragödie für sein Land. Schließlich verlieh Peskov der Hoffnung Ausdruck, dass das Ende der russischen „Spezialmilitäroperation“ absehbar sei und möglicherweise bereits innerhalb der nächsten Tage erfolgen könne. Angesichts der Tatsache, dass die offiziellen Verlustzahlen der russischen Streitkräfte vom Verteidigungsministerium am 25. März mit 1351 Mann beziffert wurden (am 2. März sprach das russische Verteidigungsministerium noch von 498 Mann), erschien die Bereitwilligkeit Peskovs, wesentlich erheblichere Verluste einzugestehen – ohne dabei allerdings eine Zahl zu nennen – als bemerkenswert. Die Zuversicht des Kremlsprechers, wonach die Kriegshandlungen innerhalb von wenigen Tagen beendet sein würden, kann freilich kaum geteilt werden. Nach wie vor bleiben zu viele Punkte offen und eine Kompromisslösung ist nur schwer vorstellbar. Denn selbst die Minimalzielsetzung Russlands nach militärischer Kontrolle des gesamten Territoriums der sogenannten Volksrepubliken von Donezk und Luhansk kann nicht innerhalb von Tagen erreicht werden. Weitreichendes Entgegenkommen Moskaus ist aber ohnehin angesichts offizieller Ankündigungen, inoffizieller Drohgebärden, grausamer Kriegsverbrechen und immer neuer Grenzüberschreitungen nicht zu erwarten. Die mit Abstand größte Unsicherheit ist und bleibt der russische Präsident Wladimir Putin. Seine Entscheidungen über den weiteren Verlauf der Friedensverhandlungen sowie des Angriffskrieges gegen die Ukraine sind nicht absehbar. Während also die vorgebliche Hoffnung Dmitrij Peskovs mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit vergeblich bleiben dürfte, werden seine Worte über die Staatsmedien der russischen Bevölkerung nahegebracht und so die weitverbreiteten Überzeugungen innerhalb der russischen Gesellschaft nach begrenzten Einsatzzielen und punktuellem Gewalteinsatz der russischen Streitkräfte genährt. Die Einstellung der russischen Bevölkerung gegenüber dem Phänomen Krieg ist nach Ansicht der Experten des renommierten regierungskritischen Meinungsforschungsinstituts Levada-Zentrum ein überaus komplexes Thema. Zunächst einmal wird unter dem Begriff Krieg traditionell ein Weltkrieg verstanden (genauer: atomarer Weltkrieg). Die Einstellung gegenüber der Kriegsgefahr von Seiten der russischen Bevölkerung dürfte deutlich komplexer sein, als die Umfragen es zeigen können. Auf den ersten Blick zeichnen alle Umfrageergebnisse des Levada-Zentrums aus dem Jahr 2021 zwar ein deutliches Bild und zeugen von klar ablehnender Haltung und großer Kriegsangst unter zwei Dritteln der Befragten, gleichzeitig jedoch werden demonstrative Drohgesten (Militärparaden) und passiv-aggressive Rhetorik der russischen Führung von einer deutlichen Mehrheit unterstützt – ganz im Sinne der in Russland kanonischen Gedichtzeilen Michail Svetlovs: „Wir sind friedliche Menschen, aber unser Panzerzug steht auf dem Reservegleis“. Levada-Experten sprechen in diesem Zusammenhang von einem doppelten Antlitz der kollektiven Persönlichkeit der russischen Gesellschaft. Demnach wurde jener seit der Stalinzeit das Selbstbild einer durch und durch friedvollen Nation eingeimpft; unter der friedlichen Oberfläche dürfte aber die Kriegsführungsbereitschaft deutlich ausgeprägt sein. Dazu trägt das unter Wladimir Putin zum Staatskult erhobene Gedenken an den Großen Vaterländischen Krieg (Kampf der Sowjetunion gegen Deutschland 1941-1945) wesentlich bei. Denn nach Ansicht der Bevölkerung kann ein (echter) Krieg nur auf russischem Boden stattfinden. Kriegshandlungen außerhalb Russlands werden von der Gesellschaft als – mehr oder weniger Aufmerksamkeit erfordernde – begrenzte bewaffnete Auseinandersetzungen bzw. Friedens- und Unterstützungseinsätze unter Beteiligung russischer Streitkräfte verstanden. Diese Eigenart der russischen Gesellschaft kommt der Führung des Landes sehr gelegen und wird zu propagandistischen Umdeutungszwecken stets herangezogen; so auch mit Blick auf den aktuellen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Diese Eigentümlichkeit trifft interessanterweise auch auf die beiden Tschetschenienkriege zu. Ungeachtet der Tatsache, dass Tschetschenien eine Teilrepublik Russlands war und bleibt, im russischen Kollektivbewusstsein ist diese Kaukasusrepublik de facto inneres Ausland; Ähnliches dürfte auch für andere Republiken des Nordkaukasus gelten. Nach sechs Wochen voller schockierender Bilder von Gewalt, Zerstörungen und unbeschreiblichem Leid der ukrainischen Zivilbevölkerung findet der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine weiterhin kaum Zugangsmöglichkeiten ins Bewusstsein weiter Teile der russischen Gesellschaft. Selbst die furchtbaren Geschehnisse in der Kiewer Vorstadt Butscha vermögen die russische Bevölkerung nicht aufzuwühlen. Die schrecklichen Bilder aus Mariupol, Tschernihiw, Butscha, Borodjanka scheinen nicht die Kraft freizusetzen, die russische Gesellschaft aus ihrer Passivität zu reißen. Das gleiche Schicksal wird auch die Aufnahmen des aktuellen Raketenangriffes Russlands auf die am Bahnhof von Kramatorsk wartenden ukrainischen Kriegsflüchtlinge ereilen. Insofern ist es nicht weiter verwunderlich, dass alle Umfrageergebnisse sowohl des Levada-Zentrums als auch des staatlichen Meinungsumfrageinstitutes WCIOM beinahe deckungsgleiche Ergebnisse liefern. Ungeachtet der Schreckensbilder steigt die Unterstützung sowohl für die russische „Spezialmilitäroperation“ als auch für die Führung des Landes und alle Staatsinstitutionen deutlich an. So berechtigt das Misstrauen gegenüber der Aussagekraft von Umfragedaten in autoritären, ihre Legitimation aus massiver Staatspropaganda speisenden Regimen auch ist, sollte dennoch gerade in Bezug auf die russische Gesellschaft ein wesentlicher Aspekt nicht übersehen werden – die passive Konformität der russischen Bevölkerung. Die freiwillige Unterwerfung der Menschen unter die ideologische Deutungshoheit des Staates erfolgte nicht zuletzt aus der Überzeugung heraus, ohnehin so gut wie nichts am Verhalten der Entscheidungsträger ausrichten zu können. Dennoch waren und bleiben eine allgemeine Bequemlichkeit und die Sehnsucht nach Verantwortungsverlagerung auf die Schultern des paternalistischen Staates wesentliche Gründe für diese passive Konformität der russischen Gesellschaft. Sie erleichterte ganz erheblich den Erfolg der Staatspropaganda und ermöglicht eine präzise und de facto widerstandslose, schleichende Gleichschaltung der Bevölkerung. Insofern ist die willige Passivität kaum weniger problematisch als erklärter Aktivismus und aggressive Konformität. Nach Beobachtung Andrei Kolesnikovs vom Carnegie Moscow Center folge die russische Bevölkerung Wladimir Putin wie ein Blinder einem blinden Blindenführer, und der Ausgang dieses Unterfangens sei vorgezeichnet, denn die Umrisse der Grube, in die beide fallen werden, zeichneten sich bereits klar am Horizont ab. Auch dafür werde die schweigende Mehrheit der russischen Bevölkerung die schwere Bürde der Verantwortung übernehmen müssen.