Friday, April 8, 2022

Der Mythos von Russlands Elitetruppen wird in der Ukraine entzaubert

Neue Zürcher Zeitung Deutschland Der Mythos von Russlands Elitetruppen wird in der Ukraine entzaubert Andreas Rüesch - Vor 9 Std. Es war ein Triumph, als Major Sergei Krylow am 19. Januar vor die Kameras des russischen Staatsfernsehens trat. «Mission erfüllt» stand in grossen Lettern auf den Bildschirmen: Erfolgreich kehrten Russlands Luftlandetruppen von ihrer Operation im benachbarten Kasachstan zurück. Innerhalb weniger Tage hatten sie Entscheidendes dazu beigetragen, den Volksaufstand gegen das dortige Regime zu ersticken. Die Luftlandetruppen, in denen Krylow diente, wurden damit ihrem Ruf einer schlagkräftigen Eingreifarmee gerecht. Doch dieses Bild hat seither schwer gelitten. Weniger als einen Monat nach der Rückkehr aus Kasachstan wurde ein Grossteil der Luftlandetruppen zum Krieg in die Ukraine geschickt. Für viele erwies sich dies als Himmelfahrtskommando. Major Krylow ist tot, ebenso wie ein halbes Dutzend weiterer höherer Offiziere seiner Einheit, des 331. Fallschirmjägerregiments. Verheerende Verluste bei Kiew In russischen Todesanzeigen der vergangenen Wochen tauchen auffallend viele «Desantniki» auf, wie man in Russland die Angehörigen dieser Teilstreitkraft nennt. Bilder von zerschossenen und ausgebrannten Luftlandepanzern in den Vororten von Kiew lassen erahnen, dass die einst gefürchtete Speerspitze des russischen Militärs bei ihrem Vorstoss zur ukrainischen Hauptstadt entsetzliche Verluste erlitten hat. Die Website Oryx, die fotografisch erfasstes Kriegsgerät der beiden Konfliktparteien auflistet, dokumentiert 152 gepanzerte Fahrzeuge der Luftlandetruppen, die zerstört oder von den Ukrainern erbeutet wurden. Mit einer solchen Anzahl, zu der wohl eine erhebliche Dunkelziffer hinzukommt, liesse sich fast eine ganze Brigade ausrüsten. Auch aus anderen Quellen geht hervor, dass manche Einheiten nicht mehr einsetzbar sind, darunter das erwähnte 331. Regiment. Dabei handelt es sich nicht um irgendeine gewöhnliche Einheit. Die «331er» aus Kostroma zählten innerhalb der Luftlandetruppen zu den Besten und durften diese Teilstreitkraft regelmässig an Paraden auf dem Roten Platz in Moskau repräsentieren. Über die Jahrzehnte hatten sie an zahlreichen Militäroperationen teilgenommen, darunter in beiden Tschetschenienkriegen, in Bosnien und Kosovo, in Georgien und 2014 bei der Besetzung des Donbass. Es handelt sich fast ausschliesslich um «Kontraktniki», also um auf Zeit verpflichtete Berufssoldaten. Trotz der schwierigen Informationslage lässt sich rekonstruieren, was zu der verblüffenden Niederlage der Luftlandetruppen beigetragen hat. Ein Teil der Erklärung liegt darin, dass dieser militärischen Elite nicht zuletzt ihr eigener Mythos zum Verhängnis geworden ist. Die Desantniki – das Wort kommt vom französischen «descente» (Sinkflug) – preisen sich als furchtlose, wild entschlossene Kerle an. Propagandavideos zeigen jeweils Muskelprotze mit stählernem Blick und mit Kieferknochen wie Granitblöcke. Die himmelblauen Bérets und die keck zur Schau getragenen weiss-blau gestreiften Leibchen geben den Desantniki erst recht ein verwegenes Aussehen. Ein populäres Werbelied besingt sie als unbesiegbare Kraft, die «wie ein Sturzregen» niedersaust und «wie ein Wirbelwind» über den Gegner herfällt. Doch genau dies – die Fähigkeit zu blitzartigen Attacken – verleitete Moskau zu einer fatalen Fehlplanung. Die Kremlführung um Präsident Putin und die Generalität waren offenbar überzeugt davon, dass man Kiew handstreichartig einnehmen könne. Entsprechend wiesen sie den Desantniki eine Schlüsselrolle zu. Die Funktion von Luftlandetruppen besteht darin, mit überraschenden Vorstössen hinter die feindlichen Linien strategische Objekte zu besetzen. Damit können sie den Bodentruppen den Weg bereiten. Solche Angriffe müssen nicht zwingend aus der Luft erfolgen, also per Fallschirmabsprung oder mit Helikoptern. Auch eine Eilverlegung auf Strassen ist möglich. Doch die hohe Mobilität geht auf Kosten der Sicherheit. Die Desantniki sind relativ leicht bewaffnet; sie schiessen sich nicht, wie man dies an anderen Frontabschnitten beobachten kann, mit Artillerie Haus um Haus eine Schneise in die gegnerischen Linien. Ihre Panzerfahrzeuge, die einen Abwurf per Fallschirm aus Transportflugzeugen überstehen müssen, sind leichter gebaut als die Schützenpanzer der Infanterie. Im Kampf gegen einen gut vorbereiteten, entschlossenen Gegner wie die Ukrainer wird dies sofort zu einem Problem. Mehrere Helikopter abgeschossen Am Morgen des 24. Februar beobachteten Einwohner des Kiewer Vororts Hostomel, wie sich im Tiefflug mehr als 20 russische Kampfhelikopter näherten. Ihr Ziel war der Antonow-Flughafen. Nur 10 Kilometer von der Stadtgrenze entfernt, bot er sich als Stützpunkt für die weitere Offensive gegen Kiew an. Doch die Überraschung gelang nur halb – offenbar auch deshalb, weil der amerikanische Geheimdienst CIA von dem Plan erfahren und das ukrainische Militär gewarnt hatte. Die Russen konnten den Flughafen zwar einnehmen, aber sie verloren dabei laut dem Militärexperten Rob Lee mindestens fünf Helikopter. Ihre Kräfte waren zu schwach, um das Rollfeld dauerhaft abzusichern und für den Anflug grosser Transportmaschinen nutzbar zu machen. Russland fehlte damit die erhoffte Basis, und es gelang nie, genügend Truppen in die Nähe Kiews zu bringen. Trümmerfelder auf dem Flughafenareal, darunter Überreste von Helikoptern und die Skelette von drei Dutzend Fahrzeugen der Desantniki, zeugen von den schweren russischen Verlusten bei der Schlacht um dieses strategisch wichtige Objekt. Bei Hostomel soll auch der erste russische General umgekommen sein, dessen Tod Moskau offiziell bestätigte: Generalmajor Andrei Suchowezki hatte die 7. Luftlandedivision kommandiert und fiel angeblich einem Scharfschützen zum Opfer. Der Misserfolg auf dem Antonow-Flughafen blieb nicht die einzige Niederlage der Luftlandetruppen im Kampf um Kiew. Auf dem Landweg fuhren gleichzeitig mehrere tausend Desantniki von Weissrussland bis in die westlichen Vororte der Hauptstadt. Durch die ukrainische Gegenwehr erlitten sie jedoch vielerorts Verluste. Das untenstehende Video mit zerstörten Fahrzeugen der Luftlandetruppen zeugt von einem gescheiterten Versuch einer Flussüberquerung im nordwestlichen Umland von Kiew: Terrorisierung von Zivilisten in Butscha Bemerkenswert ist die Aussage des 26-jährigen Gefreiten Timofei Bobow, der in Kriegsgefangenschaft geriet und später vor der Kamera Auskunft gab: «Unser Kommandant sagte uns vor der Abfahrt, das Hauptziel bestehe darin, zu verhindern, dass Amerika Atomraketen in der Ukraine aufstelle.» Bis dahin hatte die Einheit geglaubt, sie nehme an einer Militärübung teil. Bobow, ein Hobbyboxer und Familienvater, der sich vor dem Krieg auch als Video-Blogger versuchte, hatte erst wenige Monate zuvor bei den Desantniki angeheuert, zum Geldverdienen und «zum Boxtraining». Sein Luftlanderegiment erreichte nach ein paar Tagen die Stadt Butscha. Dort gerieten sie aber immer wieder in Hinterhalte. Laut Bobow kam der Befehl, in einem grossen Wohnblock sämtliche Türen aufzubrechen und die Einwohner in den Keller zu führen. Das habe man als Massnahme zum Schutz der Zivilbevölkerung dargestellt. Die Anwesenheit von Luftlandetruppen in dem zu trauriger Berühmtheit gelangten Ort ist durch zahlreiche weitere Hinweise belegt. Der nur von den Desantniki genutzte Typ von Schützenpanzern taucht in mehreren Videos aus Butscha auf. Auch der Tod eines Kompaniekommandanten von Bobows Regiment in Butscha am 11. März bestätigt den dortigen Einsatz. Damit stehen die betreffenden Einheiten unter dem Verdacht, sich an den Greueltaten in Butscha beteiligt zu haben. In Russland selber erfährt die Öffentlichkeit kaum etwas davon. Die 76. Luftlandedivision aus Pskow verbreitet auf VK – dem russischen Pendant von Facebook – ein Märchen, das den Einsatz der Desantniki weiter verherrlicht und den Lesern die brutale Kriegsrealität vorenthält. Sie veröffentlichte selbst noch am Donnerstag Aufnahmen aus dem Umland von Kiew, als seien ihre Truppen dort noch immer heldenhaft im Einsatz. Dabei ist ihr Rückzug schon vor mehr als fünf Tagen erfolgt. «Wann ist dieser Blutsauger endlich satt?» Gleichwohl sind russische soziale Netzwerke eine aufschlussreiche Quelle. Oft werden Todesfälle in Armeekreisen nur auf diesem Weg bekannt. Tief blicken lassen auch die patriotischen Ergüsse vieler Nutzer. Dann und wann wagt sich allerdings jemand mit einer kritischen Bemerkung hervor. Den Tod eines Fallschirmjägers (und landesweit erfolgreichen früheren Biathleten) kommentierte ein Mann namens Wladimir Antipow am Mittwoch mit den Worten: «Ein junger Mann, der das Leben noch vor sich hatte. Politiker entfesseln Kriege, aber warum nehmen sie nicht selber daran teil? Weil es ihnen egal ist.» Auf einen anderen Todesfall reagierte eine junge Frau auf VK mit dem Kommentar: «So viele Jungs werden in den Untergrund getrieben. Wann ist dieser Blutsauger endlich satt?» Wen sie damit meinte, war unschwer zu erraten. Als sie jemand mit einem patriotischen Wortschwall zurechtwies, liess sie nicht locker: «Von den Machthabern schickte niemand seine Kinder in den Krieg, und keiner wird das je tun.»