Friday, June 21, 2024

Three Lions enttäuschen in der Vorrunde: Ist England überhaupt noch Favorit?

Tagesspiegel Three Lions enttäuschen in der Vorrunde: Ist England überhaupt noch Favorit? Geschichte von Kit Holden • 10 Std. • 4 Minuten Lesezeit Nach vier Punkten aus zwei Spielen steht England zwar mit einem Bein im Achtelfinale und wird dennoch von den eigenen Fans ausgebuht. Der Druck auf den Trainer wächst. Zum Schlusspfiff gab es Buhrufe von den Rängen und auch auf der Pressekonferenz herrschte später eine Art Endzeitstimmung. Mit Kopfschütteln, Augenrollen und jede Menge Frust verabschiedeten sich die Engländer dann in den Frankfurter Abend. Es wirkte fast so, als wäre ihre Mannschaft nach zwei Spielen schon komplett aus der EM ausgeschieden. Dabei hatten die Three Lions 1:1 gegen Dänemark gespielt und sich mit dem vierten Punkt im zweiten Spiel praktisch schon für das Achtelfinale qualifiziert. Nur die Leistung hatte wieder nicht gepasst. Nach dem wenig überzeugenden Auftaktsieg gegen Serbien hatten die Engländer in Frankfurt fast noch schlechter gespielt. Und so langsam fängt man jetzt an, an den eigenen Titelträumen doch stark zu zweifeln. „Wenn wir erreichen wollen, was von uns erwartet wird, müssen wir uns steigern“, sagte Trainer Gareth Southgate nach dem Spiel. Vor diesem Turnier galt England noch als großer Mitfavorit: Die Zeit schien reif für den ersten EM-Sieg und den ersten Titel seit 1966. Stattdessen werden jetzt alte Neurosen ausgepackt. Es köchelt wieder ein toxisches Gebräu aus zu hohen Ansprüchen, zu wenig Geduld und zu viel Besserwisserei. Southgate sitzt wie ein Sünder auf dem Beichtstuhl Schon in der Straßenbahn vor dem Spiel jammerten die England-Fans über ihren Coach. Southgate sei zu konservativ, zu einfallslos. Er sei nicht in der Lage, die wahnsinnig talentierten Angriffsspieler in den englischen Reihen richtig zu nutzen. Die Experten sahen es übrigens ähnlich, und so saß der Trainer nach dem Spiel wie ein reumütiger Sünder auf dem Beichtstuhl und bat um Verzeihung. „Ich kann den Frust der Fans komplett verstehen. Wir müssen akzeptieren, dass das jetzt unsere Realität ist. Man erwartet, dass wir auf dem höchsten Niveau gewinnen. Wenn wir dieses Niveau nicht erreichen, müssen wir alles akzeptieren, was auf uns zukommt“, sagte der 53-Jährige und nahm sich selbst in der Verantwortung. „Wir müssen diese Herausforderung annehmen, und das ist am Ende mein Job.“ Ob er diese Aufgabe noch meistern kann, wagen immer mehr Beobachter zu bezweifeln. Gegen Dänemark wirkte England nicht nur blass, sondern auch planlos. Sie verließen sich zu sehr auf Ausnahmetalenten wie Jude Bellingham und Phil Foden und agierten gerade im Pressing kaum als Einheit. Auch das Tor entstand am Ende nur wegen eines groben Fehlers auf der gegnerischen Seite. Dazu muss man anerkennen, dass Southgates auch bei aller Qualität im Kader mit Personalproblemen zu kämpfen hat. Im Sturm ist Kapitän Harry Kane immer noch nicht komplett fit, während andere Positionen einfach schwach besetzt sind. Auf der Doppelsechs spielt immer noch Trent Alexander-Arnold, ein gelernter Außenverteidiger. Auf der linken Außenbahn spielt der Rechtsfuß Kieran Trippier, weil Luke Shaw aktuell verletzt ist. „Tripps hat es super gemacht, aber wenn dein bester Linksverteidiger nicht zur Verfügung steht, bekommst du keine Balance“, so Southgate. Um Außergewöhnliches zu erreichen, musst du schwere Momente durchleben. Und das war heute zweifellos ein schwerer Moment. Gareth Southgate Dennoch sind viele über die Art und Weise verblüfft, wie England die Spiele angeht. Sowohl gegen Serbien als auch gegen Dänemark ging an früh in Führung und zog sich dann direkt zurück, um das Spiel zu verwalten. Im ersten Spiel ging das noch gut. Im Zweiten ging es nach hinten los. Während Spanien und Deutschland mit vielen Toren begeistern, wird England mit seiner Negativität zum Stimmungsdämpfer. Southgate gibt sich selbstkritisch und trotzig Doch was sagen die Briten ja immer über die Deutschen? Man soll sie eben nicht zu früh abschreiben. Turniere werden nicht in den ersten zwei Spielen gewonnen und erst recht nicht mit hemmungslosem Angriffsfußball. Mit Blick auf den Rest des Turniers − England könnte als Gruppensieger noch im selben Turnierbaum wie Frankreich und Italien landen − könnte es sich vielleicht noch als sinnvoll erweisen, in der Gruppenphase die Kräfte gespart zu haben. Immerhin hat man jetzt vier Punkte und damit beste Chancen auf das Weiterkommen und den Gruppensieg. Mitten in der Misere am Donnerstag musste man sich eigentlich auch fragen, ob alles tatsächlich doch so schlimm wäre. Bei aller Selbstkritik gab sich auch Southgate ein wenig trotzig − wenn auch nur zwischen den Zeilen. „Um Außergewöhnliches zu erreichen, musst su schwere Momente durchleben. Und das war heute zweifellos ein schwerer Moment“, sagte er. „Aber England hat noch nie die ersten zwei Spiele einer EM gewonnen, und dafür gibt es auch einen Grund.” Das hörte sich fast wie ein kleiner Seitenhieb an den vor ihm sitzenden Journalisten an. Als würde er sie daran erinnern wollen, dass England immer noch nie Europameister wurde, und dass er mit seiner Mannschaft mehr Erfolg genossen hat als jeder andere England-Trainer seit 1966. Wegen Bellingham, Foden, Kane und der anderen waren die Erwartungen vor diesem Turnier extrem hoch. Am Ende plädierte Southgate für ein wenig mehr Perspektive: „Wir versuchen hier, etwas zu tun, was nie zuvor getan wurde“, sagte er. „Insofern ist das eine riesige Herausforderung.“