Wednesday, April 3, 2024

Deutschland „irreparabel beschädigt“? Ökonomen nennen wahre Probleme der deutschen Wirtschaft

Merkur Deutschland „irreparabel beschädigt“? Ökonomen nennen wahre Probleme der deutschen Wirtschaft Max Schäfer • 1 Std. • 4 Minuten Lesezeit Reformen gefordert Die deutsche Wirtschaft schwächelt. Politiker machen häufig die Energiekrise verantwortlich. Eine Analyse von IWF-Ökonomen sieht die Probleme an anderer Stelle. München – Lockdowns in der Corona-Pandemie, Energiekrise in Folge des Ukraine-Krieges: Relativ kurz nacheinander sah sich die Wirtschaft in Deutschland mit zwei Krisen konfrontiert. Besonders die zwischenzeitlich hohen Energiepreise, Inflation und hohe Zinsen im Kampf gegen die Teuerung sorgten für eine schwache Konjunktur – und eine schrumpfende Wirtschaft 2023. Doch diese temporären Faktoren sind nicht das größte Problem der deutschen Wirtschaft. Das ist zumindest das Ergebnis einer Analyse des Internationalen Währungsfonds (IWF). Demnach sind nicht die Folgen der Energiekrise alleine für das schwache Wirtschaftswachstum in Deutschland verantwortlich, sondern eine Kombination aus vorübergehenden und strukturellen Problemen. Als temporäre Faktoren nennt der IWF die hohen Energiepreise, die zur geringen Kaufkraft und zum schwächeren Wachstum beigetragen. Zudem hätten die hohen Zinsen der Europäischen Zentralbank im Kampf gegen die Inflation den Wohnungsbau und andere zinssensible Bereiche belastet. IWF-Ökonomen sehen Besserung bei den kurzfristigen Problemen der deutschen Wirtschaft Dabei sieht der IWF Deutschland mittlerweile wieder auf einem guten Weg. „Die gute Nachricht ist, dass dieser vorübergehende Gegenwind in den nächsten ein bis zwei Jahren allmählich nachlassen dürfte“, schreiben die Experten in ihrer Analyse. Dabei sehen sie eine Reihe von positiven Tendenzen. Die Gaspreise seien inzwischen gefallen. Der Index für Handelsbedingungen sei auf dem Niveau von vor der Energiekrise. Auch der Handelsüberschuss steige wieder an und liege mit 4,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts wieder über dem Durchschnitt der letzten zwei Jahrzehnte. Die Fachleute rechnen damit, dass er weiter steigt. IWF sieht langfristige strukturelle Probleme für die Wirtschaft in Deutschland Der IWF hat jedoch auch schlechte Nachrichten für Deutschland. Zwei strukturelle Faktoren sind langfristig eine Belastung für die Wirtschaft. „Die schlechte Nachricht ist, dass ein grundlegenderer struktureller Gegenwind – das schleppende Produktivitätswachstum – ohne Reformen wahrscheinlich bestehen bleibt“, heißt es in der Analyse. Zudem werde sich die Alterung der Bevölkerung stark beschleunigen. Das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner werde unter Druck geraten, „da auf jeden Rentner weniger Arbeitskräfte kommen“, warnt der IWF. Die Alterung der Gesellschaft werde zu höheren Sozialbeiträgen und niedrigeren Renten führen. Zudem würden durch den demografischen Wandel mehr Arbeitskräfte in den Gesundheitssektor wechseln – weshalb diese in anderen Branchen fehlen. Der Arbeitskräftemangel könnte Investoren abschrecken. IWF nennt Migration und stärkere Einbindung von Frauen als Mittel gegen den Fachkräftemangel Mehr Migration nach Deutschland kann nach Ansicht der IWF-Ökonomen ein wirksames Mittel gegen den Fachkräftemangel sein. Vor allem sollte es Deutschland jedoch Frauen einfacher machen, ihre Arbeitsstunden zu erhöhen. Es gebe 2,3 Millionen weniger erwerbstätige Frauen als Männer. Zudem arbeiteten Frauen fünfmal häufiger in Teilzeit. Der IWF folgert: „Ein Ausbau des Zugangs zu verlässlicher Kinderbetreuung und eine Senkung der Steuern für Zweitverdiener bei verheirateten Paaren könnten dazu beitragen, diese Lücken zu schließen.“ Zudem ist laut IWF eine Steigerung der „unzureichenden Investitionen“ in die Infrastruktur „dringend geboten“. Sie sei in den 1990er Jahren zurückgegangen und reiche seitdem kaum noch aus, um die Substanz zu erhalten. Deutschland liege am Schluss der fortgeschrittenen Volkswirtschaften. Zudem würden für Investitionen eingeplante Gelder nicht ausgegeben. IWF-Ökonomen fordern eine Reform der Schuldenbremse Als Lösung schlagen die Ökonomen des Weltwährungsfonds eine Reform der Schuldenbremse vor. Der Spielraum für Schulden könnte auf ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts erweitert werden. Alternativ nennt die Analyse die Mobilisierung von mehr Einnahmen und eine Reform der Ausgaben. Die Analyse dürfte den Streit über die Schuldenbremse innerhalb der Regierung zwischen Finanzminister Christian Lindner und Wirtschaftsminister Robert Habeck weiter anheizen. Ein weiteres Hemmnis für Investitionen ist laut IWF die Bürokratie in Deutschland. Diese verhindert „nach wie vor sowohl Investitionen als auch die Gründung neuer Unternehmen“. Als Beispiel nennen die Ökonomen die lange Genehmigungszeit von Windparks. Außerdem dauere es 120 Tage, um eine Geschäftslizenz zu erhalten, was mehr als das doppelte des OECD-Durchschnitts sei. Die Digitalisierung könnte die Prozesse beschleunigen, erklären die Fachleute in ihrer Analyse. „Deutschland steht vor großen wirtschaftlichen Herausforderungen, verfügt aber auch über politische Hebel, um diese zu bewältigen und eine bessere wirtschaftliche Zukunft zu sichern“, erklären die Ökonomen. Warnungen vor einer „Deindustrialisierung“ in Deutschland sind übertrieben – laut IWF So hat der IWF auch gute Nachrichten für Deutschland. Die Autoren der Analyse widersprechen etwa Stimmen, die der Ansicht sind, dass Deutschlands Geschäftsmodell „irreparabel beschädigt“ sei, weil das frühere starke Wirtschaftswachstum auf dem Import von billigem russischen Gas beruht habe. Auch die Warnungen vor einer „weitverbreiteten Deindustrialisierung“ seien „übertrieben“. Sie räumen ein, dass energieintensive Branchen wie die Chemie-, Metall und Papierindustrie geschrumpft seien. Diese machen jedoch noch vier Prozent der Wirtschaft aus. Dagegen verweisen sie auf das Wachstum der Autoproduktion und das Engagement der deutschen Autobauer im Bereich Elektromobilität. VW und BMW hätten 2023 mehr als zehn Prozent des weltweiten Absatzmarktes ausgemacht. Allgemein habe sich die Industrie an die Energiekrise und die Lieferkettenprobleme angepasst. (ms)