Wednesday, November 1, 2023

Warum Blumen an der Nato-Grenze zu Russland die Norweger jetzt in Sorge versetzen

Merkur Warum Blumen an der Nato-Grenze zu Russland die Norweger jetzt in Sorge versetzen Artikel von Peter Sieben • 4 Std. Ukraine-Krieg Warum Blumen an der Nato-Grenze zu Russland die Norweger jetzt in Sorge versetzen Im hohen Norden von Norwegen sorgt ein merkwürdiges Phänomen für Unruhe: An russischen Kriegsdenkmälern tauchen immer wieder Blumen auf. Kein Zufall, glauben Experten. Oslo/Kirkenes – Wenn man nicht aufpasst, setzt sich der Ohrwurm fest: „Sag mir, wo die Blumen sind“ – sofort hat man die Stimme von Marlene Dietrich im Ohr, die den Song einst zum Welthit machte. Ein Lied über Soldaten, Gräber und Blumen darauf – und darüber, dass der Krieg in einem endlosen Kreislauf immer wieder von vorne beginnt. Hoch im Norden von Norwegen, an der Grenze zu Russland, wird in diesen Tagen Kirkenes in Norwegen: An der Spitze der Nato-Nordflanke Die norwegische Stadt Kirkenes liegt nur wenige Kilometer vom Grenzübergang nach Russland entfernt. Die Region ist Norwegens nördlichster Landzipfel der sogenannten Nordflanke, die Nato-Gebiet von Russland trennt. Hier leben Norweger und Russen seit vielen Jahren Tür an Tür. Für sie galt eine in Europa einmalige Sonderregelung: Innerhalb einer 30-Kilometer-Zone durften sich Russen und Norweger visafrei zwischen den Ländern hin und her bewegen. Es gab regen Handel, enge familiäre Beziehungen. Damit ist nun Schluss: Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine ist die Grenze dicht. Plötzlich tauchen immer wieder Blumen an russischen Kriegsdenkmälern auf Are Tomasgard vom norwegischen Gewerkschaftsbund LO auf einem Balkon im Regierungsviertel von Oslo „Die Situation ist schwierig für alle, die dort leben. Viele haben zum Beispiel ihre Jobs verloren“, erzählt Are Tomasgard. Er ist beim Gewerkschaftsbund LO in der norwegischen Hauptstadt Oslo unter anderem für Sicherheitspolitik zuständig und besucht im Rahmen seiner Tätigkeit immer wieder auch die Grenzregion. Die Kimek-Werft in Kirkenes, ein großer Arbeitgeber, stecke in Schwierigkeiten: Denn die Kunden kamen aus Russland. Die Auftragsbücher seien zwar voll, aber: „Die Kunden können ihre Aufträge wegen der Sanktionen nicht mehr bezahlen.“ Die Stimmung vor Ort sei angespannt und ein merkwürdiges Phänomen bereite vielen gerade Bauchschmerzen: „Plötzlich tauchen immer wieder Blumen an russischen Kriegsdenkmälern auf, was vorher Jahrzehnte lang nicht passiert ist“, sagt Tomasgard und zeigt Fotos davon auf seinem Handy. Die russischen Denkmäler im Grenzgebiet sollen an die Befreiung Norwegens von den Nazis durch die Rote Armee am 25. Oktober 1944 erinnern. Jetzt würden auf einmal immer mehr solcher Denkmäler gebaut, sagt Tomasgard. Viele empfänden das angesichts des Ukraine-Kriegs als befremdlich bis bedrohlich. Immer wieder führt das zu Streit zwischen Kriegsgegnern und prorussischen Einwohnern. Russisches Kriegsdenkmal in Kirkenes in Norwegen Generalkonsul von Russland sorgt für Eklat in Norwegen Jetzt kam es zu einem Eklat, über den sogar das norwegische Fernsehen überregional berichtete: Der russische Generalkonsul Nikolaj Konygin hatte am sogenannten Befreiungsdenkmal einen Kranz in russischen Nationalfarben über den offiziellen Blumenschmuck der Gemeinde Sør-Varanger, zu der Kirkenes gehört, abgelegt. Ein Affront – und zwar ein derart großer, dass Bürgermeister Magnus Mæland sich genötigt fühlte, den russischen hinter den schwedischen Kranz der Gemeinde zu legen. Das Spielchen setzte sich fort: Irgendwer holte den russischen Kranz heimlich wieder nach vorne und jemand anders entfernte ihn dann wieder. Was sich auf den ersten Blick vielleicht wie eine lokale Posse lesen mag, nimmt man in Norwegen sehr ernst. „In den letzten Jahren hat die russische Regierung in der Region mehrere Denkmäler gewollt, geplant oder errichtet. Das ist kein Zufall“, sagt Ragnhild Skare von der norwegischen Forschungsplattform Utsyn, die sich mit Außen- und Sicherheitspolitik befasst. „Wir sehen, dass die russische Regierung die einzigartige Geschichte und Stimmung im hohen Norden Norwegens aktiv nutzt, um ihre Narrative über den Zweiten Weltkrieg zu verbreiten“, so Skare. Vorwurf: Russland will angesichts von Ukraine-Krieg Stimmung machen Nach Jahrzehnten enger Beziehungen zwischen Norwegern und Russen im Norden seien die Gefühle gegenüber Russland dort anders als im Süden. „Es gibt nicht viele andere Orte in Europa mit einer so wichtigen strategischen Bedeutung und einer ähnlichen Geschichte und Stimmung.“ Es sei besorgniserregend, aber nicht überraschend, dass Russland das nun zu seinem Vorteil nutze und sich als großer Befreier auch vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs geriere: Von Anfang an hatte Russlands Präsident Wladimir Putin die Invasion als angebliche Befreiungsaktion verkauft. Auch bei der Polizei ist die Sache mit den Blumen ein Thema. „Wir registrieren, dass an solchen Denkmälern Blumen niedergelegt werden“, sagt Ellen Katrine Hætta, Chefin des Polizeidistrikts Finnmark. Sie sei sich im Klaren darüber, dass das als außenpolitisches Instrument genutzt werden könne, um unter anderem den Einmarsch Russlands in die Ukraine zu legitimieren. Haetta betont: „Wenn es um die Beziehung zwischen Norwegern und Russen geht, geht es uns um die Sicherheit aller hier lebenden Menschen.“ Indes gebe es bislang nur wenige Fälle, in denen es zu Gewalt zwischen Norwegern und Russen gekommen sei. „Wir legen großen Wert darauf, sicherzustellen, dass alle sicher sind, unabhängig von ihrer Nationalität“, so die Polizeichefin. General aus Norwegen hält Angriff auf Nato für unwahrscheinlich Are Tomasgard sieht unterdessen noch einen weiteren Punkt. „Manche glauben, dass Russland vielleicht eines Tages einen Vorwand sucht, russische Einwohner in der Finnmark zu schützen“, sagt er und setzt das Wort „schützen“ gestisch in Anführungszeichen. An einen direkten russischen Angriff glaubt hier indes keiner. „Das kann ich mir nicht vorstellen“, sagt etwa Brigadegeneral Eystein Kvarving, Kommunikationschef der norwegischen Streitkräfte. Seit dem Nato-Beitritt Finnlands und dem bevorstehenden Beitritt Schwedens sei die Nato-Nordflanke so sicher wie nie. Überdies hat Russland nach Beobachtungen des norwegischen Militärs Teile seiner Truppen an der Grenze abgezogen, nur noch etwa ein Fünftel sei dort. „Die Truppen braucht Russland ja jetzt in der Ukraine, viele der russischen Soldaten sind dort wahrscheinlich gefallen“, so Kvarving. Und doch werden immer wieder russische Bewegungen nahe der Arktis registriert und es gab zuletzt zahlreiche auffällige Drohnen-Sichtungen. (pen)