Thursday, November 9, 2023

Mehr arbeiten, länger arbeiten, weg mit der „Rente mit 63“

FOCUS Mehr arbeiten, länger arbeiten, weg mit der „Rente mit 63“: Die Wirtschaftsweisen schlagen in ihrem Jahresgutachten eine umfassende Rentenreform vor. Die Vorschläge sind nicht neu – und dürften für einige Diskussionen sorgen. Dass Deutschland ein Rentenproblem besitzt, ist nicht neu, doch bisher hat noch keine Bundesregierung sich zu einer vollständigen Rentenreform durchringen können. Dabei wird das Problem mit der Zeit nur größer. Weil die geburtenstarken Jahrgänge der 1950er- und 1960er Jahre in den kommenden Jahren in immer größerer Zahl in den Ruhestand eintreten, steigt die Zahl der Rentner stark an, während die Zahl der Erwerbstätigen sinkt. Für unser umlagefinanziertes Rentensystem bedeutet das, dass immer weniger Beitragszahler immer mehr Empfänger auszahlen müssen. Das geht im Prinzip nur auf zwei Arten: Entweder muss der Beitrag jedes einzelnen Einzahlers deutlich steigen oder die Rente jedes Empfängers sinken. Um beides in Grenzen zu halten, schlagen die Wirtschaftsweisen in ihrem aktuellen Jahresgutachten eine umfassende Rentenreform vor. Sie empfehlen folgende Änderungen: 1. Mehr Erwerbstätige werben Je mehr Menschen in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen, desto mehr kann auch an Rentner ausgezahlt werden. Die Logik ist simpel. Deutschland schöpft dabei seine Potentiale noch lange nicht aus. Auf der einen Seite sind derzeit rund 2,6 Millionen Menschen ohne Job, davon 928.000 Menschen seit mehr als einem Jahr, womit sie als Langzeitarbeitslose gelten. Außerdem ist die Erwerbstätigkeit von Frauen (73 Prozent) geringer als von Männern (80 Prozent) und von Menschen ab 60 Jahren mit 63 Prozent deutlich unter der sonstigen Quote von 85 Prozent. Die Wirtschaftsweisen sehen hier Optimierungspotential. Auch eine stärkere Zuwanderung von Fachkräften würde zu mehr Beitragszahlern führen. Allerdings hilft nicht nur eine höhere Anzahl an Beitragszahlern, sondern auch mehr Arbeitsstunden, die zu höheren Beiträgen führen. Gemeint ist damit nicht, dass Sie in einer Vollzeitstelle wieder mehr als 40 Stunden schuften sollten, sondern dass die hohe Anzahl an Teilzeitjobs – gerade bei Frauen – zu mehr Vollzeitstellen ausgebaut werden sollte. Angenehmer Nebeneffekt solcher Maßnahmen: „Eine Steigerung der Erwerbstätigkeit führt zudem auch zu einer Erhöhung der gesamtwirtschaftlichen Leistung.“ Was würde es bringen? Die Wirtschaftsweisen rechnen in einem Modell damit, dass die Frauenerwerbstätigkeit bis 2030 auf 97,5 Prozent des Niveaus der Männer ansteigt, jährlich netto 350.000 Arbeitskräfte zuwandern und das tatsächliche Renteneintrittsalter von derzeit 64 auf die gesetzlich festgelegten 67 Jahre ansteigt. Die Effekte aller Maßnahmen wären vorhanden, aber begrenzt. Das Rentenniveau würde bis 2035 von derzeit 49,5 Prozent auf bestenfalls 48 Prozent absinken, der Beitragssatz auf mindestens 20,5 Prozent ansteigen. Auch die Bundeszuschüsse müssten um 0,25 Prozent des BIP anwachsen. Bis 2060 würde die Situation noch schlimmer werden. Allerdings zeigt das Modell nicht den kumulierten Effekt aller Maßnahmen, sondern nur die einzelnen Effekte. 2. Beamte sollen in die Rentenversicherung einzahlen Beamte sind bisher von der Rentenversicherung ausgenommen. Sie zahlen keine Beiträge und bekommen technisch gesehen auch keine Rente, sondern ein Ruhegehalt, welches sich nach ihren vorherigen Bezügen berechnet. Die Wirtschaftsweisen schlagen nun vor, dass auch Beamte ganz normal in die Rentenversicherung einzahlen sollen. Der Vorteil: Die Ausgaben für Beamte würden dadurch transparenter und Rentenreformen würden für Beamte und alle anderen Erwerbstätigen gleichermaßen gelten und müssten nicht jedes Mal separat beschlossen werden. Allerdings ist eine solche Reform in Deutschland schwer umzusetzen. Weil Beamte sowohl vom Bund als auch von den Bundesländern angestellt sind, müssten 17 Entitäten – also der Bund plus alle 16 Bundesländer – eine entsprechende Reform einzeln umsetzen. Das dabei mindestens eine ausschert und nicht mitmacht oder eine Extrawurst haben möchte, ist fast schon vorauszusetzen. Was würde es bringen? Die finanziellen Vorteile einer solchen Reform sind begrenzt. Kurzfristig würde die Rentenversicherung deutlich höhere Einnahmen verbuchen, weil eben alle jetzigen Beamten einzahlen, aber Rentenzahlungen erst geleistet werden müssten, wenn diese in den Ruhestand eintreten. Bis 2070 ergibt sich so ein finanzieller Vorteil für die Rentenversicherung, der sich dann aber ins Gegenteil umkehrt, wenn alle heutigen Beamten in Rente sind. Am Ende wäre das Problem dann wieder dasselbe, denn auch unter Beamten gehen mehr Menschen in Rente als neu in den Beruf eintreten. Zusätzliches Problem: Beamte haben statistisch gesehen eine höhere Lebenserwartung, kassieren also auch auf ihr Leben gerechnet höhere Rentenauszahlungen. 3. Selbstständige sollen in die Rentenversicherung einzahlen Ebenfalls von verpflichtenden Rentenzahlungen ausgenommen sind bisher Selbstständige. Sie dürfen aber freiwillig Beiträge zahlen. Die Ampel-Koalition hat in Ihrem Koalitionsvertrag bereits ein Gesetz vorgesehen, nachdem alle Selbstständigen, die nicht einem privaten Versorgungswerk angehören, in die gesetzliche Rentenversicherung aufgenommen werden müssen. Was würde es bringen? Die Modellrechnung für Selbstständige ist nicht so einfach, weil diese ein Wahlrecht zwischen gesetzlicher und privater Vorsorge hätten und nicht klar ist, wie viele sich für welches Modell entscheiden würden. Die Wirtschaftsweisen gehen von einer Entlastung der Rentenversicherung aus, die auch dauerhaft besteht, weil Selbstständige nicht wie Beamte eine signifikant höhere Lebenserwartung haben, auf der anderen Seite aber meist überdurchschnittlich gut verdienen und entsprechend mehr Beiträge leisten würden. Zudem setzen die Wirtschaftsweisen darauf, dass der Staat dadurch an anderer Stelle sparen würde, weil zum Beispiel alle bisher unterversorgten Selbstständigen keine Grundsicherung im Alter mehr beziehen müssten. 4. Späteres Renteneintrittsalter Die große Koalition aus CDU/CSU und SPD hatte 2007 bereits die Rente mit 67 eingeführt. Das bisherige Renteneintrittsalter von 65 Jahren steigt seitdem für alle ab 1947 Geborenen stufenweise an. Alle die ab 1964 geboren wurden, müssen tatsächlich bis zu ihrem 67. Geburtstag arbeiten. Das geht den Wirtschaftsweisen noch nicht weit genug. Sie schlagen vor, dass Renteneintrittsalter weiter anzuheben. Ihr Argument ist, dass die Lebenserwartung und damit auch die Bezugsdauer der Renten immer weiter ansteigt. Der Vorschlag ist, beides auch weiterhin aneinander zu koppeln, also das Renteneintrittsalter nach Geburtsjahr zu bestimmen. Beispiele dafür gibt es aus anderen Ländern, etwa Estland, Finnland und Portugal, wo das Eintrittsalter alle zwei bis drei Jahre überprüft und erhöht wird. Die Wirtschaftsweisen würden von dort auch die Idee übernehmen, eine Anhebung auf wenige Monate pro Schritt zu begrenzen. Dabei sollte ein Verhältnis von Versicherungsjahren zu Rentenbezugsjahren von 2:1 eingehalten werden. Allerdings müsste es bei einer solchen Regelung Ausnahmen geben für Menschen, die etwa körperlichen Tätigkeiten nachgehen, welche sich mit dem Alter immer schlechter ausüben lassen. Die Wirtschaftsweisen schlagen deswegen Härtefallregelungen vor, nach denen gesundheitlich angeschlagene Personen eine vergleichbare Erwerbsminderungs- oder Frührente bekommen würden. Was würde es bringen? Kurzfristig wären die Änderungen kaum spürbar. Bis 2080 würde eine Erhöhung des Rentenalters aber zu rund zwei Prozent höherem Rentenniveau und einem Prozent niedrigerem Beitragssatz führen. Erste positive Effekte davon wären ab 2035 zu spüren. 5. Umbau der „Rente mit 63“ Die „Rente mit 63“, offiziell „Rente für besonders langjährig Versicherte“ gilt seit 2014. Menschen mit mindestens 45 Beitragsjahren dürfen dann schon ab dem 63. Geburtstag ohne Abschläge in Rente. Diese Regelung wollen die Wirtschaftsweisen abschaffen. Sie argumentieren, dass die Intention des Gesetzes war, Menschen mit niedrigem Einkommen und hoher physischer Belastung eine frühe Rente zu ermöglichen, die Regel in der Praxis aber mehrheitlich von Menschen mit mittlerem Einkommen und guter Gesundheit in Anspruch genommen wird. Sie schlagen deswegen vor, die „Rente mit 63“ durch eine Regelung zu ersetzen, wonach jeder abschlagsfrei in Rente gehen darf, der mindestens 40 Beitragsjahre vorzuweisen hat, in denen er im Durchschnitt maximal 60 Prozent des jeweiligen Durchschnittseinkommens verdiente. Ein solches Gesetz würde zielgenauer auf arme Menschen treffen, die meist auch eher körperlich anspruchsvolle Jobs ausüben. Was würde es bringen? Auf das gesamte Rentensystem betrachtet, hätte diese Änderung keine Auswirkung. 6. Neue Berechnung der Renten Die Berechnung der Renten erfolgt nach einer komplizierten Formel. Bei dieser wurde im Jahr 2000 der Nachhaltigkeitsfaktor eingeführt. Er ist ein mathematisches Konstrukt, der das Verhältnis von Beitragszahlern zu Rentnern berücksichtigt. Vereinfacht gesagt: Je mehr Rentner auf einen Beitragszahler treffen, desto geringer fällt eine Rentenerhöhung pro Jahr aus. In diesem Nachhaltigkeitsfaktor gibt es wiederum einen Rentnerquotienten. Er liegt derzeit bei 0,25. Dies bedeutet, dass eine Verschlechterung der Verhältnisses zwischen Zahlern und Rentnern zu einem Viertel von den Rentnern (durch geringere Rentensteigerung) und zu drei Vierteln von den Zahlern durch höhere Beiträge getragen wird. Die Wirtschaftsweisen schlagen vor, diesen Quotienten auf 0,5 zu ändern, womit Beitragszahler und Rentner die Lasten gleichermaßen teilen würden. Im Effekt würde das sowohl Beiträge als auch Renten weniger stark steigen lassen. Als zweiten Schritt soll die Berechnungsgrundlage der Renten geändert werden. Bisher folgen diese der Reallohnentwicklung. Das soll laut Wirtschaftsweisen in Zukunft nur noch für die Berechnung der Zugangsrente gelten. Bestandsrenten hingegen sollten der Inflationsrate folgen, damit Rentner nicht an Kaufkraft verlieren. Dieses Modell ist in vielen anderen Staaten wie etwa der Schweiz, Finnland und Polen schon Usus. Möglich wäre auch ein Mischmodell, bei dem Lohnentwicklung und Inflation gleichermaßen berücksichtigt werden. Was würde es bringen? Beide Maßnahmen würden die Beitragssätze langsamer ansteigen lassen – aber zu Lasten der Rentner, die deutlich weniger Rente bekommen würden. Die Inflationsindexierung würde den Effekt des geänderten Nachhaltigkeitsfaktors langfristig abschwächen, trotzdem würde das Rentenniveau bis 2050 auf 42 Prozent des Durchschnittslohns absinken. Der Beitragssatz würde bis 2080 nur auf 22 statt auf 24 Prozent ansteigen. 7. Mehr Rente für Arme, weniger für Reiche Weil die obigen beiden Maßnahmen mehr Altersarmut produzieren würden, wollen die Wirtschaftsweisen die Berechnung der Renten anders an das bisherige Einkommen koppeln. Zwar sollen Menschen, die mehr eingezahlt haben, im Alter immer noch eine höhere Rente erhalten, aber ein Umverteilungsmechanismus soll dafür sorgen, dass die Renten reicher Menschen sinken, während sie bei ärmeren Menschen überproportional steigt. Umsetzbar wäre das, indem etwa niedrige Einkommen mehr Rentenpunkte erhalten oder Rentenpunkte aus Jahren mit geringerem Einkommen einen höheren Wert erhalten. Letzteres wird etwa in den USA praktiziert. Was würde es bringen? Bleibt die Armutsquote unter Rentnern stabil, würden aufgrund der höheren Anzahl an Rentnern Millionen mehr ältere Menschen in Armut fallen. Dem könnte mit einer Umverteilung gegengearbeitet werden. Die Wirtschaftsweisen haben berechnet, dass vor allem Frauen, darunter speziell alleinerziehende Frauen, die größte Profiteure einer solchen Änderung wären, weil sie durch die Kindererziehung meist in Teilzeit arbeiten und entsprechend weniger Beiträge leisten. Leidtragende wären vor allem verheiratete Männer. Für Menschen mit einem mittleren Einkommen würde sich gegenüber heute nichts ändern. 8. Staatsfonds statt Riester-Rente Die FDP hat ihr Modell einer Aktienrente bereits auf den Weg gebracht, doch vor 2045 sind davon keine Vorteile zu erwarten. Die Wirtschaftsweisen schlagen ein anderes Modell vor. Sie wollen die bisherige, weitgehend erfolglose Riester-Rente abschaffen und stattdessen einen Staatsfonds gründen, der in Aktien und Anleihen investiert. Beitragszahler könnten dort freiwillig Beiträge leisten, die vom Staat gefördert würden. Außerdem soll der Fonds für die betriebliche Altersvorsorge geöffnet werden, so dass etwa kleinere Unternehmen ihren Mitarbeitern eine solche anbieten könnten. Was würde es bringen? Die Wirtschaftsweisen rechnen, dass ein Staatsfonds mit einer durchschnittlichen Nettorendite nach Kosten von 5 Prozent pro Jahr arbeiten könnte. Auf dieser Grundlage würde dadurch das Rentenniveau auf über 70 Prozent im Jahr 2080 ansteigen, wenn ein Beitragszahler die heute maximal riester-geförderten 4 Prozent seines Bruttoeinkommens stattdessen in einen Staatsfonds einzahlt. Im Vergleich würde eine simple Erhöhung der Beitragssätze um 4 Prozent sogar zu einem sinkenden Rentenniveau führen.