Wednesday, November 8, 2023
Irland im Aufschwung: Die glücklich-unglückliche Insel
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Irland im Aufschwung: Die glücklich-unglückliche Insel
Artikel von Philip Plickert •
In Irland hat vor Kurzem eine riesige neue Chipfabrik von Intel eröffnet. 17 Milliarden Euro sind in den Bau in Leixlip nahe Dublin geflossen, Tausende Arbeitsplätze schafft der amerikanische Halbleiterhersteller damit. Und die Chipfabrik in Leixlip wurde ohne staatliche Subventionen in Milliardenhöhe errichtet – anders als Deutschland es für die Intel-Fabrik in Magdeburg verspricht.
Ausländische Direktinvestitionen seien enorm wichtig für die Wirtschaft Irlands, betonte Premierminister Leo Varadkar zur Eröffnung der Fabrik. Schon seit vierzig Jahren zieht die Republik mit ihrer sehr niedrigen Unternehmensteuer von nur 12,5 Prozent einen breiten Strom multinationaler Konzerne an. Giganten wie Amazon, Apple, Google und Meta haben Hauptquartiere in Dublin aufgeschlagen. Stark sind auch Pharmakonzerne wie Pfizer auf der Insel vertreten.
Nicht nur die günstige Steuer, auch die qualifizierten Arbeitskräfte, hohe technische Standards und die wirtschaftsfreundliche Regulierung ziehen die Unternehmen an. Selbst im Jahr der globalen Corona-Rezession 2020 verzeichnete Irland ein Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von 6 Prozent, 2021 waren es sogar 15 Prozent – aufgebläht durch die Gewinne der Digitalkonzerne. Im vergangenen Jahr legte die Wirtschaftsleistung trotz Energiepreisschock 9 Prozent zu, in diesem Jahr dürften es immerhin noch 2 Prozent sein.
Die Schuldenkrise ist weitgehend vergessen
Irland ist mit so rapidem Wachstum die große Ausnahme unter den Industrieländern. Innerhalb von acht Jahren haben sich die Körperschaftsteuereinnahmen auf fast 23 Milliarden Euro verdreifacht. Zwar werden der neue OECD-Mindeststeuersatz von 15 Prozent und weitere Änderungen vom kommenden Jahr an die Attraktivität des Standorts und die Einnahmen etwas abschwächen, doch der Dämpfer hält sich in Grenzen.
Weitgehend vergessen ist die Schuldenkrise, die vor zehn Jahren eine Rettungsaktion von IWF und EU nötig machte, nachdem die Immobilien- und Bankenblase geplatzt war. Der Sparkurs unter „Troika“-Aufsicht war sehr schmerzhaft. Mittlerweile sind viele Narben weitgehend verheilt, die Schuldenstände stetig gesunken. Die sprudelnden Gewinnsteuern bescheren Irland üppige Haushaltsüberschüsse, dieses Jahr 10 Milliarden Euro (1,8 Prozent des BIP).
Nun hat die Regierung im Oktober angekündigt, dass sie zwei Staatsfonds gründet, die Überschüsse sammeln, wie das in Europa sonst nur das reiche Ölland Norwegen tut. Pro Jahr will sie 0,8 Prozent des BIP zurücklegen. Der „Ireland Future Fund“ soll bis 2035 rund 100 Milliarden Euro als Reserven für schlechtere Zeiten sowie für Gesundheits- und Rentenausgaben sammeln. Hinzu kommt ein zweiter, kleinerer Fonds für Infrastrukturausbau, Energie- und Klimapolitik.
Viele Gründe zum Klagen
Man könnte meinen, die Iren müssten ein sehr glückliches Volk sein. Auf dem Papier haben sie eines der höchsten BIP-Pro-Kopf-Niveaus, allerdings sind diese Zahlen durch die enthaltenen Gewinne der Konzern-Multis statistisch aufgebläht. Das bereinigte Bruttonationaleinkommen ist geringer, aber immer noch beachtlich. Dennoch gibt es in Irland auch viele Gründe zum Klagen.
Besonders bedrückend ist die Wohnungsnot. Gerade in Dublin und Umgebung sind die Mieten exorbitant hoch, die Nachfrage übersteigt das Angebot. Es wird seit Jahren zu wenig gebaut. Starke Zuwanderung aus dem Ausland – innerhalb von zwei Dekaden ist die Bevölkerung um fast ein Drittel auf 5,3 Millionen Menschen gewachsen – hat die Knappheit an Wohnraum immer weiter verschärft. Zuletzt kamen fast 100.000 Ukrainer und weitere Asylbewerber.
Zwei Drittel der jungen Iren unter 30 Jahre können sich eine Mietwohnung nicht leisten und leben bei den Eltern. Ein Eigenheim ist für viele Familien kaum noch erschwinglich. Nicht alle in Irland haben vom langjährigen Boom profitiert. Und Teile der Infrastruktur des Landes – seien es die schmalen Landstraßen, überfüllte Krankenhäuser oder bröckelnde Schulen – sind in der Vergangenheit steckengeblieben.
Die Unzufriedenheit vieler Iren zeigt sich darin, dass die linksgerichtete, irisch-nationalistische Sinn Féin in Umfragen auf ein Drittel und damit stark zugelegt hat. Sie ködert Wähler mit sozialpolitischen Versprechen. Ihre fragwürdige Vergangenheit als IRA-Sprachrohr schreckt immer weniger junge Leute. Ministerpräsident Varadkars bürgerliche Koalition schwächelt in der Wählergunst, die mitregierenden Grünen sind besonders gesunken. Hohe BIP-Zahlen, Haushaltsüberschüsse und ein Zukunftsfonds sind aus Sicht vieler Iren offenbar nicht genug. Es fehlt vor allem an Konzepten, wie das Land die Wohnungsnot durch mehr Neubau in den Griff bekommt.