Monday, November 6, 2023

„Hochproblematisch, Menschen gegen ihren Willen in irgendeinen Teil der Welt zu bringen“

WELT „Hochproblematisch, Menschen gegen ihren Willen in irgendeinen Teil der Welt zu bringen“ Artikel von Ulrich Exner • 6 Std. Vor dem Treffen mit Bundeskanzler Olaf Scholz erklärt Niedersachsens Regierungschef Stephan Weil die Notlage der Kommunen für „unübersehbar“. Illegale Zuwanderung müsse eingedämmt werden. Bezahlkarten für Asylbewerber statt Bargeldzahlungen seien sinnvoll. Doch beim Vorschlag, Asylverfahren aus Deutschland auszulagern, hat er schwere Bedenken. Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil, 64, ist Sprecher der SPD-geführten Bundesländer WELT: Herr Weil, was erwarten Sie von dem Treffen der Ministerpräsidenten mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD)? Stephan Weil: Wir haben viele wichtige Themen auf dem Zettel. Ich hoffe sehr, dass wir vor allem beim Thema Migrations- und Flüchtlingspolitik einen deutlichen Schritt vorankommen. Da haben wir als Länder in all unserer politischen Unterschiedlichkeit dem Bund einen gemeinsamen Vorschlag gemacht, der auch die Blaupause für einen Konsens auf Bundesebene sein kann. Aber auch der Streit um die finanzielle Beteiligung des Bundes an den Kosten der Kommunen muss endlich zu einem Ende gebracht werden. WELT: Die Länder fordern an dieser Stelle 10.500 Euro Unterstützung pro Migrant, der Bund bietet derzeit grob gerechnet 5000 Euro. Einigen Sie sich da in der Mitte? Weil: Das wird man dann sehen. Zunächst einmal ist es gut, dass wir uns nicht mehr darüber streiten, ob es ein System geben soll, das sich an der Zahl der tatsächlich aufgenommenen Menschen orientiert und nicht pauschale Jahressummen vorsieht. Da herrscht mittlerweile Konsens. Uneinig sind wir uns bei der Höhe der Pro-Kopf-Zahlungen. Der Bund macht es sich viel zu einfach, wenn er bei seiner Kalkulation beispielsweise kostenintensive Gruppen wie die unbegleiteten Minderjährigen außen vor lässt. WELT: In der Praxis geht es den Kommunen nicht nur ums Geld. Viele Verantwortliche warnen davor, ihren Gemeinden überhaupt noch Migranten zuzuweisen. Weil es keine Unterbringungsmöglichkeiten mehr gibt, keine Integrationskapazitäten, keine Plätze in den Schulen und immer weniger Akzeptanz in der Bevölkerung. Was sagen Sie Ihren Bürgermeistern, wenn Sie ihnen in den kommenden Monaten dennoch weitere Asylbewerber zuweisen müssen? Weil: Jedenfalls versuche ich gar nicht erst, die großen Probleme wegzureden, vor denen unsere Bürgermeisterinnen und Bürgermeister stehen. Die sind ja unübersehbar. Klar ist deshalb, dass wir die irreguläre Migration eindämmen müssen. Das betrifft die europäische Ebene mit einer Sicherung der Außengrenzen ebenso wie eine gleichmäßige Verteilung in Europa. Deshalb brauchen wir jetzt auch dringend den europäischen Asylkompromiss, der erfreulicherweise ja kurz vor dem Abschluss steht. Und wir müssen die eigenen Hausaufgaben machen mit Grenzkontrollen und mehr Rückführungen. WELT: Ihr nordrhein-westfälischer Kollege Hendrik Wüst (CDU) hat in diesem Zusammenhang gerade vorgeschlagen, die Zahl der Asylbewerber auch dadurch zu reduzieren, dass die Verfahren künftig nicht mehr innerhalb der EU durchgeführt werden, sondern in entlang der Fluchtrouten gelegenen Partnerländern. Gute Idee? Weil: Sagen wir mal so: Ich halte Abkommen, wie sie Deutschland mit der Türkei geschlossen hat, für eine große Hilfe. Die Bundesregierung versucht das derzeit unter der Überschrift „Migrationsabkommen“ auch mit anderen Ländern weiterzuentwickeln. Wenn das gelingt, wäre das einen echte Hilfe. Nicht hilfreich sind dagegen Konzepte, wie sie derzeit unter dem Stichwort „Ruanda“ in manchen Köpfen herumgeistern. Menschen gegen ihren Willen einfach in irgendeinen anderen Teil der Welt zu bringen, mit dem sie nie etwas zu tun hatten, und sie dort einem völlig ungewissen Schicksal zu lassen, halte ich für hochproblematisch. WELT: Bis weitere Migrationsabkommen oder der EU-Asylkompromiss umgesetzt werden können, wird es absehbar noch dauern. Ihre Innenministerin sucht deshalb zur Entlastung der Kommunen händeringend nach Gebäuden für neue Erstaufnahme-Einrichtungen. Haben Sie Verständnis dafür, dass die Menschen vor Ort, auch die verantwortlichen Kommunalpolitiker, immer häufiger sagen: Bitte nicht bei uns? Weil: Da ich selbst auch mal Oberbürgermeister gewesen bin, kann ich gut verstehen, wie sich die Kolleginnen und Kollegen gerade fühlen, wenn sie immer noch mehr Leute integrieren sollen. Ich kann auch die Sorgen der Verantwortlichen gut nachvollziehen, wenn die Zahl der Geflüchteten in einer kleinen Gemeinde etwa durch die Einrichtung einer Erstaufnahme noch einmal deutlich erhöht werden soll. Gleichzeitig muss ich meinerseits um Verständnis bitten, dass wir solche zentralen landeseigenen Unterkünfte dringend benötigen. Nur so können wir den Druck auf alle anderen Kommunen wenigstens etwas lindern. Sie sollen die Chance haben, zumindest ein paar Wochen im Voraus planen zu können. WELT: Wie viele Erstaufnahme-Plätze wollen Sie zusätzlich schaffen? Weil: Wir wollen von derzeit rund 10.000 Plätzen bis zum Jahresende auf 15.000 Plätze kommen und dann weiter auf 20.000 aufstocken. WELT: War es falsch, dass Niedersachsen seine Erstaufnahme-Kapazitäten – es waren einmal rund 30.000 Plätze – nach 2016 so stark reduziert hat? Weil: Stark reduziert ist relativ. Im Jahr 2016 hatte die Landesaufnahmebehörde eine Kapazität von 28.500 Unterbringungsplätzen. Von diesen Plätzen wurden jedoch viele temporär aufgrund von Amtshilfeersuchen durch Kommunen betrieben. Eine Vielzahl dieser damals genutzten Notunterkünfte steht inzwischen nicht mehr zur Verfügung. Und wir hatten auch nach der Reduktion deutlich mehr Plätze als vor 2015. Dann aber gab es einige Jahre lang erhebliche Überkapazitäten. Richtig ist, dass wir zu einem noch flexibleren System kommen müssen, mit dem wir auf stark schwankende Zugangszahlen reagieren können. WELT: Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) hat in den vergangenen Monaten immer wieder für die Schaffung sogenannter Bundesausreise-Zentren plädiert. Halten Sie das für eine Möglichkeit, den Zuwanderungs-Druck auf Länder und Kommunen zu verringern? Weil: An den größeren Flughäfen könnten solche Einrichtungen Sinn machen, etwa um von dort aus Rückführungen zu organisieren. Darüber hinaus erscheint mir die Idee eher unausgegoren. Wenn Abschiebungen nicht durchgeführt werden können, liegt das ja in der Regel nicht an den hiesigen Behörden. Grund ist vielfach, dass die Herkunftsländer diese Menschen entweder nicht wiederaufnehmen wollen oder wir schlicht nicht wissen, welches die Herkunftsländer sind. Das sind die beiden Hauptprobleme. WELT: Bei der Ministerpräsidentenkonferenz mit dem Kanzler wird es auch um die Reduktion sogenannter Pull-Faktoren gehen; also von Anreizen, die Deutschland als Fluchtziel besonders attraktiv machen. Unter anderem geht es darum, Bargeldzahlungen durch den Einsatz von Bezahlkarten zu ersetzen. Der richtige Ansatz? Weil: Wenn es darum geht, Geldüberweisungen in die Heimatländer einzuschränken, wäre das vermutlich eine vernünftige, technisch allerdings keineswegs triviale Regelung. Gerade aus den nordafrikanischen Staaten kommen immer wieder junge Männer in die EU und nach Deutschland, deren Ziel es ist, Geld an ihre Familien zu überweisen. Das mag verständlich sein, ist aber eindeutig nicht Sinn des politischen Asyls.