Thursday, November 9, 2023

Gastbeitrag von Gabor Steingart - Bitterer Schadensbericht für Deutschland offenbart die große Kanzler-Schwäche

FOCUS online Gastbeitrag von Gabor Steingart - Bitterer Schadensbericht für Deutschland offenbart die große Kanzler-Schwäche Artikel von Von Gastautor Gabor Steingart (Berlin) • 4 Std. Deutschland am Scheideweg: Analyse des Wirtschaftsrates zeigt erschreckende Schwächen. Demografie, Kapitalmangel, grüne Transformation und Start-up-Kultur - die Herausforderungen sind gewaltig. Doch der Kanzler sieht das anders Die gute Nachricht zuerst: Der SPD-Kanzler hat sich nach langem Zögern einen Ruck gegeben. Vor dem Deutschen Bundestag spricht er aus, was längst schon ausgesprochen gehört: „Wir brauchen eine Erneuerung unseres Landes, die weit über das hinausgeht, was bisher getan wurde.“ „Wir haben ein schwaches Wachstum, eine hohe Staatsverschuldung, eine unzureichende Bildung und Qualifikation vieler Menschen. Wir haben ein unflexibles Arbeitsrecht, einen überbordenden Sozialstaat, eine hohe Steuer- und Abgabenlast. Wir haben zu wenig Eigenverantwortung und zu viel Bürokratie.“ Die schlechte Nachricht: Dieser zupackende Bundeskanzler war Gerhard Schröder. Seine Rede zur Einbringung der Reform Agenda 2010 am 14. März 2003 ging als Klartext-Rede in die Geschichte ein. Olaf Scholz ist aus anderem, weicherem Holz geschnitzt Der Nach-Nachfolger Olaf Scholz ist aus anderem, weicherem Holz geschnitzt. Er kann sich zu dieser Klarheit der Analyse nicht durchringen. Er hat sich – beraten von den Spin Doctoren seiner Partei – aufs Schönreden und Weichzeichnen verlegt. „Deutschland ist ein stolzes Segelschiff und für alle Stürme gerüstet“, sagte er kürzlich im Interview mit der Welt. Und auch im ZDF-Sommerinterview belehrte er den tapfer nachfragenden Theo Koll ein ums andere Mal, dass die Lage blendend und der Interviewer falsch gewickelt sei. Vieles, was da gegenwärtig gesagt wird über die Schwächen des Standortes „wirkt doch ein bisschen eigenwillig“. Das ist Olaf Scholz, der Mann, der nichts hören, sehen und fühlen will. Deutschland hat das Wachsen eingestellt Genau deshalb hat der Rat der fünf Weisen, das höchste Beratergremium der Bundesregierung, sich auf einen Akt des Widerstandes verständigt – und das bedeutet in diesem Fall auf eine Analyse des Landes, die den Grauschleier der schönen Worte wegbläst. So wird der Blick frei auf ein Land, das de facto das Wachsen eingestellt hat. Die deutsche Wirtschaftsgeschichte – das ist die Quintessenz des ihm von den fünf Wirtschaftswissenschaftlern gestern überreichten Gutachtens – ist nach furiosem Auftakt eine Geschichte, die von Wachstumsverlangsamung und von Erschlaffung erzählt. Von 1950 bis 1970 wuchs das preisbereinigte Bruttoinlandsprodukt mit durchschnittlich 6,4 Prozent pro Jahr. Das war die Zeit des Wirtschaftswunders. Deutschland blühte auf. Die Durchschnittslöhne der Deutschen stiegen in diesem Zeitraum preisbereinigt um 84 Prozent. Im Durchschnitt der letzten zwei Jahrzehnte von 2000 bis 2020 ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP) preisbereinigt nur noch um 1,2 Prozent pro Jahr gewachsen. Ohne Gerhard Schröders Agenda 2010 hätte die Erschlaffung schon früher eingesetzt. In der Zeit, die vor uns liegt, hört Deutschland de facto auf zu wachsen. Das Potenzialwachstum – also die langfristige Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts bei optimaler Auslastung der vorhandenen Kapazitäten – wird laut der Mittelfristprojektion des Sachverständigenrates in den kommenden zehn Jahren lediglich knapp 0,4 Prozent pro Jahr betragen. Die Gründe für diese Erschlaffung nennt der Sachverständigenrat auch. Seine Schwachstellenanalyse ist im Grunde ein Schadensbericht für die Bundesrepublik mit dem geheimen Arbeitstitel „Wirtschaftswunderland ist abgebrannt“: Schwachstelle #1: Deutschland altert Durch den demografischen Wandel geht die inländische Arbeitskraft dramatisch zurück. Die Autoren schreiben: „Die nun durchschlagende Zunahme an Personen, die das Rentenalter erreichen, wird voraussichtlich nicht ausreichend durch steigende Erwerbsquoten und Zuwanderung ausgeglichen werden. Dies führt zu einem deutlichen Rückgang des Arbeitsvolumens.“ Während im Jahr 2021 50,3 Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter waren, dürften Simulationsrechnungen zufolge im Jahr 2080 nur noch 45,5 Millionen Menschen in diesem Alter sein. Das heißt, der Volkswirtschaft werden fast 5 Millionen Erwerbsfähige entzogen. Schwachstelle #2: Der Kapitalstock schrumpft Erst die Kombination von Arbeit und Kapital ermöglicht Wirtschaftswachstum. Und auch beim Faktor Kapital sieht es trübe aus. Das für Produktionszwecke im Jahresdurchschnitt eingesetzte reproduzierbare Bruttoanlagevermögen nimmt bereits seit 1970 kontinuierlich ab. Hinzu kommt: Die Modernität des deutschen Kapitalstocks schrumpft ebenfalls. Das Verhältnis von Netto- zu Bruttoanlagevermögen, das den Modernitätsgrad des Kapitalstocks anzeigt, ist in Deutschland seit dem Jahr 2000 etwa um 12 Prozent gesunken. Lesen Sie auch: Carsten Linnemann im Pioneer-Interview - CDU-General: „Wir sind überfordert. Unsere Systeme sind am Limit“ Schwachstelle #3: Es gibt keine automatische grüne Wirtschaftsrevolution Die Dekarbonisierung ist eine Jahrhundertaufgabe: Die grüne Transformation der Wirtschaft erfordert aber genau dafür gigantische Investitionen. Der Sachverständigenrat rechnet selbst in einem Szenario mit wenig ambitionierter Klimapolitik bis zum Jahr 2045 mit einem realen Investitionsvolumen für diese Transformation von bis zu 607 Milliarden Euro. Dieses Geld braucht man, um den bislang mit fossilen Energieträgern betriebenen energieintensiven Kapitalstock zu ersetzen. Aber durch den Austausch der Energieträger entsteht noch keineswegs eine höhere Wertschöpfung, also effizientere oder bessere oder günstigere Produkte, womit dieser Transformationsprozess keineswegs automatisch zur Stärkung des Wirtschaftswachstums beiträgt. Auf der Pressekonferenz fügt Prof. Veronika Grimm hinzu: „Durch das Ersetzen von Anlagen am Ende ihrer Lebensdauer entsteht erstmal kein zusätzliches Wachstum. Eine Stilllegung von Anlagen vor Ende ihrer Lebensdauer dämpft das ohnehin sehr verhaltene Wachstum.“ Schwachstelle #4: Deutschland fehlt eine vitale Startup-Kultur Die Wirtschaftsweisen sehen keine Gründungslandschaft, die international mithalten könnte. Bei der Gründungsquote – also der Anzahl der Unternehmensgründungen im jeweiligen Jahr im Verhältnis zur Anzahl der aktiven Unternehmen in der gewerblichen Wirtschaft – fällt Deutschland hinter die europäischen Volkswirtschaften zurück. Im Verhältnis ist der deutsche Wagniskapitalmarkt klein und unbedeutend, sagen sie. Prof. Malmendier erklärt: „Deutsche Investoren investieren im internationalen Vergleich betrüblich wenig in Aktien. Wir sind ein Land der Sparer.“ Die Wagniskapitalinvestitionen machten in Deutschland im Jahr 2022 etwa 0,088 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus und lagen damit unterhalb denen der europäischen Nachbarn Schweden (0,175 Prozent des BIP), Frankreich (0,137 Prozent des BIP) und dem Vereinigten Königreich (0,115 Prozent des BIP). Ein Amtsinhaber verwaltet das ihm anvertraute Land Fazit: Möge das Aussprechen der Wahrheit heilsam wirken – auch auf den Bundeskanzler. Ein Amtsinhaber verwaltet das ihm anvertraute Land. Ein Staatsmann aber, so hat es Henry Kissinger einst definiert, führt sein Volk dahin, wo es nie vorher war.