Monday, November 6, 2023

Faeser in Marokko: Ziellos durch die Welt

FAZ Faeser in Marokko: Ziellos durch die Welt Artikel von Jochen Buchsteiner • 1 Tag(e) Dicht am Kotau: Bundesinnenministerin Nancy Faeser antichambriert am vergangenen Montag beim marokkanischen Arbeitsminister Younes Sekkouri in Rabat, um ein bilaterales Migrationsabkommen voranzubringen. An die fünfzig Leute, darunter Beamte, Berater, Dolmetscher, Sicherheitsleute und Journalisten, ließ Nancy Faeser am Montag in ihre Regierungsmaschine steigen, um in Marokko die „neue Migrationspolitik“ der Bundesregierung zu verwirklichen. Die Innenministerin von der SPD verhandelte, hofierte, antichambrierte, ja küsste sogar einen Minister, um, wie es hieß, „zarte Pflänzchen zu entwickeln“, die eines Tages zu einem Migrationsabkommen heranwachsen könnten. Als Faeser am Dienstag wieder in Berlin landete, war sich die Delegation nicht so sicher, was sie erreicht hatte. Offiziell wollte niemand Stellung nehmen, aber es wurde deutlich, dass über die Verbindlichkeit der marokkanischen Ansagen unterschiedliche Wahrnehmungen kursierten. Bilaterale „Migrationsabkommen“ sind von der Berliner Regierungskoalition zu einer Art Wunderwaffe erklärt worden. Zwar weisen Faeser und andere Kabinettsmitglieder immer wieder darauf hin, dass zur Begrenzung der irregulären Migration ein ganzes Bündel von Maßnahmen notwendig sei, aber viele Vorschläge der Opposition, die der Regierung zu weit gehen, werden mit dem Argument abgelehnt, dass Migrationsabkommen „zielführender“ (Faeser) seien. Sind sie es wirklich? In Rabat war zu beobachten, wie viel Aufwand nötig ist, um, wenn überhaupt, bescheidene Ergebnisse zu erzielen. Etwa 3600 Marokkaner leben ausreisepflichtig in Deutschland, von ihnen haben mehr als zwei Drittel eine Duldung. Konkret geht es also um etwas mehr als 900 Marokkaner, welche die deutschen Behörden – marokkanische Mitwirkung vorausgesetzt – kurzfristig in ihre Heimat zurückschicken könnten. Insgesamt halten sich mehr als 260.000 Ausreisepflichtige in Deutschland auf, also Menschen, die nach einem Verfahren nicht als Asylberechtigte oder Flüchtlinge anerkannt wurden. Sollte Deutschland 900 Marokkaner abschieben können, entspräche das einer „Entlastung“ von weniger als einem Prozent. Und schon dafür sind nach Einschätzung der Innenministerin und des mitgereisten „Sonderbevollmächtigten für Migrationsabkommen“, des FDP-Mannes Joachim Stamp, viele weitere Gespräche und Besuche notwendig. Deutschland als Bittsteller Das gleiche Engagement ist in vielen anderen Ländern gefragt, wenn der Plan Wirkung zeigen soll. Bislang wurden drei Verträge geschlossen, mit Indien, Georgien und Moldau. In Verhandlungen befindet sich die Regierung mit mindestens sechs weiteren Ländern: neben Marokko mit Tunesien, Usbekistan, Kirgistan, Kenia und Kolumbien. Jedes Land hat eigene Interessen, auf die es einzugehen gilt. Grundsätzlich wirbt Berlin mit einem Deal: Wenn ihr eure Landsleute, die irregulär nach Deutschland eingewandert (oder straffällig geworden) sind, zurücknehmt, ermöglichen wir euren auswanderungsinteressierten Arbeitskräften einen legalen Zugang zu unserem Arbeitsmarkt. Dafür wurde eigens das deutsche Einwanderungsrecht novelliert. Manche Länder, etwa Georgien, finden das wenig attraktiv, weil sie die weitere Abwanderung von Arbeitskräften verhindern wollen. Georgien hat dem Abkommen nur zugestimmt, weil es sich davon die Rückkehr von Landsleuten erhofft. Indien oder auch Marokko haben hingegen ein Interesse daran, den heimischen Arbeitsmarkt zu entlasten, weil ihre rasch wachsende Bevölkerung schwer in Lohn und Brot zu bringen ist. Von jedem Jahrgang, der in Marokko nach der Ausbildung in den Arbeitsmarkt drängt, bleiben 40 Prozent ohne Job, heißt es an der deutschen Botschaft in Rabat. Die meisten Regierungen erkennen die Bittstellerhaltung der Deutschen und treiben die Preise in die Höhe. Verlangt werden mal großzügigere Visumsregelungen, mal finanzielle Unterstützung, mal politische Hilfe in ganz anderen Fragen. Spanien etwa hat sich die engere Migrationszusammenarbeit mit seinem Nachbarland auch mit mehr Verständnis für dessen Position im Westsahara-Konflikt erkauft. Blickt man auf die Länder, mit denen Stamp verhandelt, fällt auf, dass es sich um Nebenkriegsschauplätze handelt. Von Georgien abgesehen kommt aus keinem Land ein nennenswerter Anteil von Asylbewerbern. Mehr als 70 Prozent der Menschen, die in diesem Jahr in Deutschland Asyl beantragt haben, stammen aus fünf Ländern: Syrien, Afghanistan, der Türkei, dem Irak und Iran. Mit keinem dieser Länder verhandelt Stamp offiziell über ein Migrationsabkommen. Mit Ankara besteht immerhin seit dem „Türkei-Abkommen“ von 2016 ein mi­grationspolitischer Gesprächsfaden, und auch mit dem Irak wären Gespräche ohne größeren Gesichtsverlust möglich. Modell Australien oder Großbritannien Aber mit den beiden Hauptherkunftsländern, Syrien und Afghanistan, gibt es so gut wie keine Verbindungen, weil das Assad-Regime und die Taliban-Diktatur als internationaler Partner geächtet sind. Das Verhältnis zu Iran wiederum hat sich seit dem Terrorangriff der Teheran-nahen Hamas auf Israel weiter verschlechtert. Sollte die Bundesregierung in diesen drei Ländern Rückkehrmöglichkeiten für Ausreisepflichtige eröffnen wollen, könnte dies nur höchst vertraulich sondiert werden. Wirksame Regelungen wären kaum zu erwarten. Selbst Stamp gesteht ein, dass seine Migrationsabkommen die akuten Probleme nicht lösen und „vor allem mittel- und langfristig mehr Ordnung schaffen“. Manche Fachleute vergleichen die Bemühungen der Bundesregierung mit denen eines Hausbesitzers, der Eimer aufstellt, um mit dem durchs Dach eindringenden Regen fertigzuwerden. Der Migrationsexperte Gerald Knaus spricht von einem „Mangel an Realismus“. Die derzeit verhandelten Migrationsabkommen, die in Wahrheit „traditionelle Rückführungsabkommen“ seien, würden als Maßnahme zur Begrenzung irregulärer Einwanderung „nicht funktionieren“, sagt er. Dafür müsse man den Zustrom an der Quelle eindämmen. Dies ließe sich im Prinzip nur auf zwei Wegen erreichen. Den radikalen hat Australien eingeschlagen, das Migranten ohne Ansehen der Person auf dem Meer zurückschickt oder auf entfernte Inseln wie Manus oder Nauru weiterleitet, wo „Offshore“-Verfahren angeboten werden. Das hat die irreguläre Einwanderung praktisch auf null gefahren. Flüchtlinge kommen nur noch geordnet, über Kontingente, nach Australien. Wirtschaftsmigranten müssen sich bewerben. Wechselnde Regierungen in Canberra haben ihr Vorgehen gegen den Vorwurf verteidigt, die Genfer Flüchtlingskonvention zu verletzen. Die Australier und selbst die Gerichte tragen die von Menschenrechtsorganisationen scharf kritisierte Praxis mit. Den weicheren Weg – ohne „push-backs“ oder „refoulements“ – versucht Großbritannien einzuschlagen. Nach dem sogenannten „Ruanda-Plan“, der gerade auf den Segen des Londoner Su­preme Courts wartet, soll jeder Asylbewerber, der britischen Boden erreicht, unverzüglich in das ostafrikanische Land ausgeflogen werden, um dort sein Verfahren zu durchlaufen. Kigali wird von London großzügig unterstützt und hat sich im Gegenzug verpflichtet, Asylverfahren nach internationalen Standards durchzuführen. Selbst wer als Asylberechtigter oder Flüchtling anerkannt wird, kann nicht automatisch mit einer Rückkehr ins Vereinigte Königreich rechnen. London will so Migranten von irregulären und gefährlichen Routen, insbesondere über den Ärmelkanal, abhalten und in legale Aufnahmeverfahren zwingen. Wie in Australien sollen Flüchtlinge nur noch über Kontingente ins Land geholt werden und Wirtschaftsmigranten Arbeitsvisa beantragen. Kein Konsens über das Ziel Stamp studiert den Ruanda-Deal mit zunehmendem Interesse. „Da derzeit keine Einigungen mit den zugangsstarken Ländern Syrien und Afghanistan möglich sind, brauchen wir Regelungen mit Transitländern und anderen Drittstaaten“, sagt er. Er bestreitet, dass er im Zuge seiner Verhandlungen schon sondiert, inwieweit die jeweiligen Länder für Deutschland Asylverfahren abhalten könnten. Aber intern wird ein solches, Ruanda-ähnliches Abkommen als die „große Lösung“ bezeichnet. „Asylverfahren sollten mit dem UNHCR auch in Drittstaaten möglich sein“, sagt Stamp. Müssten alle irregulär Eingereisten dort das Verfahren durchlaufen, „würde der Anreiz, sich auf lebensgefährliche Routen zu begeben, deutlich sinken.“ Von der Empörung, die der britische Ruanda-Deal zunächst in der EU hervorgerufen hatte, ist nichts mehr zu spüren. Mehrere Länder hatten schon bei den Verhandlungen zum Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS) versucht, die rechtlichen Grundlagen für eine europäische Variante des Ruanda-Deals zu schaffen. Doch die Bundesregierung setzte durch, dass Überführungen in einen sicheren Drittstaat nur erlaubt sein sollen, wenn der Asylbewerber eine Beziehung zu dem Ort hat. Inzwischen wird dies selbst in Teilen der Ampelkoalition als Fehler betrachtet. In der FDP wirkt man darauf hin, dass sich die Regierung in Brüssel für eine Aufhebung des „Konnexitätskriteriums“ einsetzt, um die Voraussetzungen für einen Ruanda-artigen Deal zu schaffen. Der GEAS-Kompromiss ist noch nicht durchs Europaparlament gegangen und könnte mit qualifizierter Mehrheit im Rat noch einmal verändert werden. Laut Knaus wäre das „in zwei Wochen machbar“. Die wahren Hürden für ein solches Abkommen liegen woanders. Zum einen müssen die interessierten europäischen Länder – Knaus sieht hier nicht die EU in der Vorhand – einen geeigneten Drittstaat finden. Zurzeit fällt dem Migrationsfachmann nur Ruanda selbst ein, das zugleich Bereitschaft und einen Großteil der rechtlichen Voraussetzungen mitbringe. Als Zwischenschritt wirbt Knaus für einen Drittstaaten-Deal zwischen Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Danach sollten sich Berlin und Paris bereit erklären, alle Migranten, die vom Kontinent aus über den Ärmelkanal britischen Boden erreichen, zurückzunehmen. Im Gegenzug soll Großbritannien dann Flüchtlingskontingente aus Deutschland und Frankreich auf legalem Wege aufnehmen. So könne das Drittstaatenprinzip schon mal etabliert werden und als Folie für Verhandlungen mit anderen Staaten genutzt werden. Doch hier steht die zweite Hürde. Noch gibt es in Berlin keinen Konsens über das Ziel, Asylverfahren in Drittstaaten auszulagern. Nach der Union hat sich zwar auch die FDP auf das Konzept festgelegt. Und selbst bei den Sozialdemokraten folgen erste Abgeordnete der Idee. Aber der Kanzler und seine Innenministerin reagierten in der vergangenen Woche hinhaltend bis abwehrend. Es wäre allerdings nicht das erste Mal, dass sich die Ampel migrationspolitische Maßnahmen, die sie zunächst für inhuman oder populistisch hielt, unter dem Druck der Ereignisse zu eigen machte.