Tuesday, October 3, 2023
Für Russland ist die deutsche Wiedervereinigung jetzt illegal
t-online
Für Russland ist die deutsche Wiedervereinigung jetzt illegal
Artikel von Lars Wienand •
30 Min.
Neues Geschichtsbuch
Für Russland ist die deutsche Wiedervereinigung jetzt illegal
Deutsch-deutscher Jubel: Menschen feiern vor dem Brandenburger Tor in den 3. Oktober 1990 hinein. 33 Jahre später verkündet ein russisches Geschichtsbuch, dass die Wiedervereinigung illegal gewesen sei.
Russland schreibt seine Geschichte neu – in den Schulbüchern. Zur deutschen Wiedervereinigung finden sich dort absurde Darstellungen, die schon für Propaganda genutzt werden.
Russische Schüler bringt der "Tag der Deutschen Einheit" ins Schlingern, wenn sie sich zur Erklärung an ein neues Geschichtsbuch halten: Dort geht es wild durcheinander mit Darstellungen zur Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten. Putin lässt die Geschichte umdeuten und die Einheit für illegal erklären, weil das seiner Argumentation nutzt.
Seit der vergangenen Woche machen sich kremlkritische und proukrainische Kanäle lustig darüber, was in dem neuen Geschichtsbuch für Elftklässler an russischen Gymnasien auf Seite 77 steht: "Im Oktober 1990 fand der Anschluss der Bundesrepublik an die Deutsche Demokratische Republik statt." Ein Anschluss der Bundesrepublik an die DDR? Spott erntet dafür der Verantwortliche und Co-Autor, der frühere russische Kulturminister Russlands Wladimir Medinski: "Medinski hat mit seinem Wunderlehrbuch ein neues Kapitel in der Geschichtswissenschaft aufgeschlagen", heißt es etwa im 100.000 Abonnenten zählenden Telegram-Kanal "Polit Circus".
DDR wird als Opfer von Übernahme dargestellt
Dabei ist die Formulierung wohl doch nicht so gedacht und dem schlampig formulierten Text im neuen Vorzeigebuch geschuldet. Denn in dem Kapitel wird deutlich, dass die DDR eigentlich das Opfer einer Übernahme ist. Der für Anschluss genutzte Begriff аншлюс kann auch Annexion bedeuten, vor allem aber ist es die fast buchstabengetreue Übertragung des deutschen Worts ins Kyrillische und steht in Russland für den Anschluss Österreichs an Hitler-Deutschland 1938. Statt eines Worts für Wiedervereinigung wird eine Verbindung zur Ausdehnung des Nazi-Reichs gewählt.
Dazu ist die Wiedervereinigung nach neuer Lesart sogar illegal. So heißt es im neuen Geschichtsbuch wörtlich: "Im August 1990 fasste die Volkskammer der DDR ohne Durchführung einer Volksabstimmung den rechtswidrigen Beschluss, die Verfassung der DDR abzuschaffen, ihre Staatsorgane abzuschaffen und der Bundesrepublik Deutschland beizutreten."
Tatsächlich war die Entscheidung demokratisch legitimiert und der Druck aus der Bevölkerung groß. 93,4 Prozent hatten in der ersten und zugleich letzten freien Wahl die Abgeordneten der DDR-Volkskammer gewählt, die dann mit überwältigender Mehrheit den Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland zum 3. Oktober beschlossen. Als der Tag kam und groß gefeiert wurde, hatten die Siegermächte natürlich zur Wiedervereinigung ihren Segen gegeben: Im September wurde dazu der "Zwei-plus-Vier-Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland" abgeschlossen – in Moskau und auch unterzeichnet von der UdSSR.
"Gehirnwäsche in vollem Gang"
Der Historiker Hubertus Knabe, langjähriger Leiter der Stasi-Gedenkstätte Hohenschönhausen, zeigt sich "entsetzt, wie in russischen Schulbüchern die Geschichte umgeschrieben wird. Die Gehirnwäsche ist in vollem Gange." Nachdem bereits der Massenmörder Stalin zum Helden erhoben worden sei und die "Wiedervereinigung" mit der Krim gefeiert werde, "ist jetzt auch der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik illegal gewesen". Putin wolle offenbar wie unter Stalin eine neue, gehorsame und von westlichen Einflüssen freie Generation heranziehen.
Geschichte nach Putins Geschmack: In dem neuen Geschichtsbuch für Elftklässler wird die Wiedervereinigung völlig verzerrt wiedergegeben.
Im vorherigen Geschichtsbuch wurde die deutsche Wende-Geschichte noch anders vermittelt, wie die "Deutsche Welle" berichtet: Da erfuhren Schüler von der friedlichen Revolution aus Unmut über die tiefe politische Krise der DDR. Dafür ist das neue Buch nach Darstellung aus dem Bildungsministerium in Moskau mit 849 Rubel (etwa 8,20 Euro) ein Fünftel günstiger als das alte. Das sei möglich, weil jetzt der Staat alle Rechte halte. Dafür ist jetzt der Zeitabschnitt von 1970 bis in die frühen 2000er-Jahre komplett neu geschrieben und die Zeit seit 2014 neu aufgenommen – also die Zeit der russischen Annexion der Krim, des Ukraine-Konflikts und -Einmarsches.
Soldaten, die in der Ukraine gekämpft haben, sollen nun auch in die Klassen kommen. Im Lehrplan für Zehnt- und Elftklässler, an die sich die insgesamt vier Bände des neuen Geschichts-Lehrbuchs richten, stehen nämlich inzwischen nicht nur die Ausbildung am Kalaschnikow-Sturmgewehr und in Erster Hilfe sowie Informationen zu zwei Granaten-Typen. Soldaten sollen auch von der Ukraine-Front die Schüler in Überleben und in patriotischer Haltung unterweisen. Um die Jugendlichen aber nicht abzuschrecken, sei für die Frontrückkehrer eine "gewisse Umschulung" und eine "gewisse Auswahl" nötig, sagte Bildungsminister Sergej Krawtsow.
"Völlig umgeschrieben"
In den besetzten Gebieten hat die neue Deutung der deutschen Wiedervereinigung schon Resonanz gefunden, etwa beim von Moskau eingesetzten Leiter der russischen Verwaltung in der Region Saporischschja, Wladimir Rogow. Er hatte auf die Forderung von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) reagiert, für Friedensgespräche solle Russland das Militär aus besetzten Gebieten zurückziehen. Die Bundesrepublik Deutschland solle erst einmal die Truppen aus dem 1990 "besetzten" Gebiet Ostdeutschlands abziehen, konterte er. Rogow meinte im Interview mit der staatlichen russischen Nachrichtenagentur RIA Nowosti offenbar auch, es wäre nötig, die DDR von der "Besatzung der Bundesrepublik Deutschland" zu "befreien". Die Bewohner der "befreiten" Teile Saporischschjas müssten die ersten sein, die diese Frage ansprächen.
In den vergangenen mehr als 20 Jahren habe Präsident Putin eine klassische Umdeutung von Geschichte auf verschiedenen Gebieten vollzogen, sagte Niko Lamprecht, der Vorsitzende des Bundesverbandes der Geschichtslehrerinnen und -lehrer, der "Deutschen Welle". "Jetzt ist wirklich das Unterste zuoberst. Putin hat die Geschichte völlig umgeschrieben." Aus Putins Sicht habe das "Russische Imperium" alles Recht, sich dies und das zurückzuholen. "Das Ganze hat nichts mit faktenbasierter Geschichte oder Völkerrecht zu tun."