Thursday, April 7, 2022
Spekulationen über Umsturzpläne gegen Putin
WELT
Spekulationen über Umsturzpläne gegen Putin
Frank Stocker - Vor 8 Std.
Der russische Exil-Oppositionelle Leonid Wolkow hat dem russischen Präsidenten Wladimir Putin mit Blick auf den Ukraine-Krieg eine verheerende Fehlkalkulation bescheinigt. „Putin hat eindeutig seine Amtszeit verkürzt“, sagte Wolkow, ein Vertrauter des in Russland inhaftierten Oppositionspolitikers Alexej Nawalny, in einem Interview mit der Nachrichtenagentur AFP. Es sei offensichtlich, dass Putin sich beim Ukraine-Krieg „verkalkuliert“ habe und die Invasion des Nachbarlandes zum Scheitern verurteilt sei.
Durch seine Entscheidung für eine Invasion in der Ukraine habe Putin „dramatisch die Wahrscheinlichkeit eines Szenarios verringert, in dem er einfach im Kreml bleibt, bis er stirbt“, so wie der langjährige Staatschef dies „geplant“ habe, sagte Wolkow am Rande des Gipfels für Menschenrechte und Demokratie in Genf.
Zwar sei Putin bisher einigermaßen erfolgreich darin, „sein Propaganda-Narrativ“ zum Ukraine-Krieg über die russischen Staatsmedien zu „verkaufen“, sagte Wolkow. Die russischen Eliten seien aber bereits „sehr unglücklich über die wirtschaftliche Verwüstung, die Opfer, die Restriktionen und Sanktionen“. Er rechne damit, dass „sie über einen Regimewechsel, über einen Wechsel des Systems nachdenken werden“.
Wolkow appellierte an die internationale Gemeinschaft, in Kontakt zum „inneren Zirkel Putins“ zu treten, „um ihnen einige Sicherheitsgarantien vorzuschlagen für den Fall, dass sie entscheiden, die Seiten zu wechseln“.
Der IT-Experte Wolkow ist einer der wichtigsten Vertrauten des prominenten Kreml-Kritikers Nawalny, der seit Anfang des vergangenen Jahres in einem Straflager östlich von Moskau inhaftiert ist. Auf Nawalny war im August 2020 in Russland ein Giftanschlag verübt worden, für den er Putin verantwortlich macht. Der Kreml weist den Vorwurf zurück.
Er sei zuversichtlich, dass ein politischer Wechsel in Moskau Freiheit für Nawalny bedeuten würde, sagte Wolkow. „Nawalny ist der persönliche politische Gefangene Putins“, sagte er. „Es ist allein an Putin zu entscheiden, ob er ihn im Gefängnis oder frei lässt.“
Für zusätzlichen Druck im Inneren des russischen Regimes könnte auch die immer klarere Beweislage im Falle der Gräueltaten von Butscha – dort wurden Hunderte Leichen gefunden, einige mit gefesselten Hände – und in anderen Orten der Ukraine sorgen. Satelliten- und Drohnenaufnahmen liefern recht eindeutige Belege für die russische Urheberschaft dieser Kriegsverbrechen. Moskau weist die Verantwortung dafür nach wie vor von sich.
Versuche der Vertuschung durch russische Truppen
Moskau werde jedoch der Verantwortung für Taten russischer Einheiten in der Ukraine nach Ansicht des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj nicht entkommen. Dies gehe schon aufgrund der hohen Zahl an in dem Krieg getöteten Ukrainerinnen und Ukrainern nicht, sagte Selenskyj in seiner Videobotschaft, die in der Nacht zu Donnerstag veröffentlicht wurde.
Daran ändere auch eine neue Taktik der Besatzer nichts. Diese versuchten nun, in den von russischen Truppen besetzten Gebieten getötete Menschen von den Straßen und aus den Kellern zu entfernen. „Dies ist nur ein Versuch, die Beweise zu verstecken und nichts weiter.“ Damit sollten die internationalen Ermittlungen behindert werden.
Es scheine, dass die russische Führung wirklich Angst habe, „dass sich die weltweite Wut über das, was in Butscha gesehen wurde, nach dem, was in anderen Städten gesehen wurde, wiederholen würde“ An die russischen Bürger gewandt sagte er: „Wenn Sie sich auch nur ein bisschen dafür schämen, was das russische Militär in der Ukraine tut, dann ist dies für diese russischen Bürger ein Schlüsselmoment: Sie müssen ein Ende des Krieges fordern – einfach fordern.“.
Zudem berichtete Selenskyj von Tausenden Vermissten. Für deren Verbleib gebe es nur zwei Möglichkeiten – sie seien entweder nach Russland deportiert oder getötet worden, sagte Selenskyj.
Unterdessen sind in einer Garage im Kiewer Vorort Hostomel nach ukrainischen Angaben elf weitere Leichen gefunden worden. Die Polizei habe diese am Mittwoch entdeckt, berichtete die ukrainische Internetzeitung „Ukrajinska Prawda“ in der Nacht zu Donnerstag und berief sich auf einen Telegram-Eintrag des ehemaligen Innenministers Arsen Awakow. Demnach soll es sich bei den Getöteten um Zivilisten handeln. Sie sollen von russischen Soldaten getötet worden sein. Die Angaben ließen sich nicht unabhängig prüfen.
Das nordwestlich der Hauptstadt Kiew gelegene Hostomel mit dem nahen Flugplatz war seit Beginn des Kriegs schwer umkämpft. Der Großteil der ursprünglich 16.000 Einwohner floh. Vor wenigen Tagen haben ukrainische Truppen wieder die Kontrolle in Hostomel, wie auch in den Nachbarorten Butscha und Irpin übernommen. Erst am Dienstag hatte der Chef der lokalen Militärverwaltung erklärt, dass man rund 400 Bewohner von Hostomel vermisse und die Behörden nun Keller inspizieren wollten.
Angst vor neuen Angriffen auf den Osten des Landes
Währenddessen wächst die Furcht, dass die russischen Truppen, die aus der Umgebung von Kiew abgezogen wurden, nun ihre Angriffe auf den Osten des Lands verstärken werden. Moskau baue weiter Kampfkraft auf, um seine Ambitionen im Donbass im Osten des Landes zu verwirklichen, sagte Selenskyj. Russische Einheiten bereiteten sich auf die Wiederaufnahme von Offensiven dort vor.
Aus US-Verteidigungskreisen verlautete ebenfalls, Russland habe alle seine schätzungsweise 24 000 oder mehr Soldaten aus der Gegend um Kiew und Tschernihiw im Norden der Ukraine abgezogen und nach Belarus oder Russland geschickt, damit sie sich reorganisieren.
Von westlicher Seite hieß es allerdings auch, die aufgeriebenen russischen Truppen benötigten nach Einschätzung von Geheimdiensten bis zu einem Monat, um sich für einen größeren Vorstoß auf den Osten der Ukraine neu zu formieren.
Dennoch ist die Kleinstadt Losowa im Gebiet Charkiw bereits von russischen Truppen mit Raketen beschossen worden. Das teilte der Bürgermeister von Losowa, Serhij Selenskyj, in einem auf Telegram veröffentlichten Video am Mittwochabend mit. Es habe keine Toten oder Verletzten gegeben, sagte Selenskyj weiter. Genauere Angaben zu den Zielen des Beschusses gab es nicht.
Der Bürgermeister hatte vor drei Tagen die Einwohner der 55.000-Einwohner-Stadt dazu aufgerufen, diese zu verlassen. Lokalen Medienberichten zufolge sind binnen zwei Tagen rund 10.000 Menschen aus der Stadt evakuiert worden. Sie ist vor allem wegen ihres Eisenbahnknotens von Bedeutung.
Auch der Gouverneur der Region Donezk, Pawlo Kirilenko, berichtete auf Facebook, dass die Menschen den Aufrufen der Behörden Folge leisten: Die Evakuierungsroute „wird mehr genutzt“ .In der 15.000-Einwohner-Stadt Wugledar südwestlich von Donezk waren nach Angaben der Regionalbehörden vier Zivilisten bei der Bombardierung eines Zentrums zur Verteilung von Hilfsgütern getötet und vier weitere verletzt.
Im nördlich gelegenen Charkiw versucht der Bürgermeister die Menschen dagegen zu beruhigen. Weder er noch das Militär hielten es momentan für notwendig, eine zentralisierte Evakuierung aus der zweitgrößten Stadt des Landes durchzuführen, sagte Ihor Terechow in einer am Mittwochabend auf Telegram veröffentlichten Videobotschaft.
Der Aufruf zu einer Evakuierung treffe aber im Gebiet Charkiw auf die Bezirke Losowa und Barwinkowe zu, sagte er weiter. Dort erwarteten Militärs eine Zuspitzung der militärischen Situation. Die Stadt Charkiw sei dagegen gut mit Waffen ausgestattet und zur Verteidigung bereit, sagte der Bürgermeister weiter. Ob jemand angesichts des andauernden Beschusses die Stadt verlassen wolle, sei die Entscheidung jedes Einzelnen.
Charkiw hatte vor dem Krieg rund 1,5 Millionen Einwohner. Angaben der Gebietsverwaltung zufolge hat ein großer Teil der Bewohner bereits in den ersten Kriegswochen die Stadt und einige auch die Region verlassen. Charkiw wird seit Beginn der russischen Invasion Ende Februar fast ununterbrochen aus der Luft und mit Artillerie angegriffen.
Am Mittwoch hatte die ukrainische Vizeregierungschefin Iryna Wereschtschuk aus Sorge vor einer neuen russischen Offensive im Osten des Landes die Menschen in den Gebieten Luhansk, Donezk und Charkiw zur Flucht aufgerufen.
In der seit einem Monat von russischen Truppen eingekesselten ukrainischen Stadt Mariupol sind nach Angaben des Bürgermeisters bisher mehr als 5000 Zivilisten getötet worden. 210 der Toten seien Kinder, sagte Wadym Boitschenko am Mittwoch. Die russischen Truppen hätten Krankenhäuser bombardiert; in einem von ihnen seien 50 Menschen verbrannt. Mehr als 90 Prozent der städtischen Infrastruktur sei von russischem Beschuss zerstört worden.
Nach Erkenntnissen des britischen Verteidigungsministeriums sitzen in der Stadt 160.000 Menschen fest. Vor dem Krieg hatte Mariupol 430 000 Einwohner. Ein vom Roten Kreuz begleiteter Konvoi mit Hilfsgütern versucht seit Freitag erfolglos, in die Stadt zu gelangen. Nach Angaben des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz gelang es dem Team aber, etwa 1000 Zivilisten, denen selbst die Flucht von Mariupol ins 84 Kilometer westlich gelegene Berdjansk gelang, am Mittwoch sicher nach Saporischschja zu begleiten.
Das russische Militär belagert die strategisch wichtige Hafenstadt am Asowschen Meer. Die Versorgung mit Nahrungsmitteln, Trinkwasser und Energie ist unterbrochen, die Stadt liegt unter Dauerbeschuss. Mit einer Einnahme von Mariupol würde sich Russland eine durchgehende Landverbindung zur Halbinsel Krim sichern, die Moskau 2014 von der Ukraine annektierte.
Insgesamt sind nach ukrainischen Angaben am Mittwoch fast 5000 Menschen aus Kampfgebieten evakuiert worden. Die stellvertretende Ministerpräsidentin Iryna Wereschtschuk sagte, 1171 Flüchtende hätten die umkämpfte Hafenstadt Mariupol am Asowschen Meer verlassen und 2515 weitere die Städte Berdjansk und Melitopol sowie andere Gebiete im Süden. Zudem seien 1206 Menschen aus der östlichen Region Luhansk evakuiert worden.