Tuesday, April 5, 2022

Schere zwischen Arm und Reich: Die Liebe der Linkspartei zu Russland ist paradox

Berliner Zeitung Schere zwischen Arm und Reich: Die Liebe der Linkspartei zu Russland ist paradox Maximilian Both - Gestern um 20:20 Die Linkspartei versteht sich als Anwältin der kleinen Leute. Gute Renten, bezahlbarer Wohnraum und Umverteilung von Reich zu Arm sind Grundpositionen der Linken. Soziale Gerechtigkeit in Deutschland und in der ganzen Welt liegen der Partei vordergründig am Herzen. Trotzdem gibt es in weiten Teilen der Linken eine auch durch den Krieg in der Ukraine ungebrochene Faszination für Russland. Doch wer genauer hinschaut, muss erkennen, dass es wohl nicht daran liegt, dass Russland besonders gerecht wäre. Während die linke Vorliebe für Kuba mit dem marxistisch-leninistischen Selbstverständnis der kubanischen Regierung korrespondiert, bleibt das Faible für Russland und den russischen Präsidenten bei näherer Betrachtung unerklärlich: Anders als Kuba hat sich Russland längst von seinem kommunistischen Erbe verabschiedet. Während Kuba zwar ein armes, aber egalitäres Land geblieben ist, herrscht in Russland ein geradezu bizarrer Neofeudalismus: Gerade einmal 111 Menschen kontrollieren über 19 Prozent des russischen Vermögens, dies ging aus einer Erhebung der Schweizer Investmentbank Credit Suisse im Jahr 2015 hervor. Tatsächlich: Der Reichtum der russischen Oligarchen ist inzwischen legendär, vor dem Krieg jetteten sie in der Welt umher und kauften Luxusjachten und sogar ganze Sportvereine. Auch Wladimir Putin selbst ist keine Ausnahme: Offiziell verdient der russische Staatspräsident zwar nur umgerechnet 140.000 Dollar pro Jahr, inoffiziell gehört Putin längst zu den reichsten Menschen Russlands. Das US-Magazin Fortune schätzt das persönliche Vermögen Putins sogar auf 200 Milliarden US-Dollar, damit wäre er einer der reichsten, wenn nicht der reichste Mann der Welt. Die obersten zehn Prozent der Bevölkerung verfügen in Russland über 85 Prozent des gesamten Vermögens. Selbst in den USA ist die Ungleichheit kleiner, obwohl das Land stets als Negativbeispiel genannt wird und die Warnung vor „amerikanischen Verhältnissen“ zum Grundrepertoire einer jeden Wahlkampfveranstaltung der Linkspartei gehört. Offiziell leben nach Angaben der russischen Statistikbehörde Rossat 18 Millionen Russen in Armut, dass sind etwa zwölf Prozent der gesamten Bevölkerung. Als arm gilt in Russland, wer über weniger als das Existenzminimum in Höhe von 12.792 Rubel verfügt – das sind gerade einmal 138 Euro. Mit dem Begriff der relativen Armut, wie man ihn aus deutschen Debatten kennt, hat das nichts mehr zu tun. 138 Euro reichen auch in Russland, einem Land mit niedrigen Lebenshaltungskosten, gerade einmal für das Allernotwendigste und zum Überleben. Schon vor dem Krieg in der Ukraine gab es also genügend Gründe für eine Partei, die sich vordergründig dem sozialen Ausgleich verschrieben hat, die Politik Putins kritisch zu betrachten und auf Distanz zu gehen. Schon nach dem russischen Einmarsch auf der Krim 2014 mussten die Russen im Folgejahr einen Reallohnverlust in Höhe von 9,4 Prozent hinnehmen. Seit dem Krieg mit der Ukraine liegt die Inflationsrate in Russland bei über 15 Prozent, und die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE) schätzt, dass das russische Bruttoinlandsprodukt in den kommenden Monaten um mindestens zehn Prozent einbrechen wird. Beides trifft den ärmsten Teil der Bevölkerung Russlands wieder am härtesten. Nähme die Linkspartei die eigene Programmatik ernst, würde sie Russland sogar kritischer als die USA betrachten, und das auch völlig unabhängig von Krieg und Frieden.