Tuesday, April 5, 2022
Satellitenfotos verstärken Vorwurf von russischen Kriegsverbrechen in Butscha
WELT
Satellitenfotos verstärken Vorwurf von russischen Kriegsverbrechen in Butscha
Frank Stocker - Gestern um 16:26
Von der „New York Times“ veröffentliche Fotos bekräftigen die Vorwürfe gegen Russland, in der ukrainischen Stadt Butscha Gräueltaten verübt zu haben. Unterdessen bombardiert die russische Armee weiter Ziele im Süden und Osten des Landes. Ein Überblick.
Neu veröffentlichte Satellitenbilder des Unternehmens Maxar Technologies bestätigen, dass einige der in dem Kiewer Vorort Butscha gefundenen Leichen bereits vor dem Abzug der russischen Truppen dort gelegen haben. Die „hochauflösenden“ Bilder „bestätigen die jüngsten Videos und Fotos in den sozialen Medien, auf denen Leichen zu sehen sind, die seit Wochen auf der Straße liegen“, erklärte ein Sprecher der US-Satellitenbildfirma.
Auf den Fotos einer Straße in Butscha von Mitte März sind mehrere Leichen mutmaßlicher Zivilisten zu sehen, die auf oder neben der Fahrbahn liegen. An dieser Stelle hatten ukrainische Beamte nach dem Rückzug der russischen Truppen Anfang April mehrere Leichen gefunden.
AFP-Fotografen hatten bei einem Besuch am vergangenen Samstag rund 20 Leichen in Zivilkleidung gesehen – einige davon mit gefesselten Händen.
Satellitenbild von Maxar Technologies, das aus der Zeit vor dem russischen Abzug aus Butscha datiert. Bei genauem Blick sind auf der vertikal verlaufenden Straße Schatten zu erkennen, deren Lage exakt jener der Leichen entspricht, die auf Videoaufnahmen zu sehen waren.
Das russische Verteidigungsministerium hatte die Bilder als „Fälschungen“ bezeichnet. Demnach seien die Leichen noch nicht dort gewesen, als die russischen Streitkräfte am 30. März abgezogen waren. Russlands UN-Botschafter Wassili Nebensja bezeichnete die Gräueltaten an Bewohnern der ukrainischen Stadt Butscha als „inszenierte Provokation“. Es handele sich dabei um eine „abscheuliche Provokation des Regimes in Kiew“, sagte Nebensja am Montag bei einer Pressekonferenz in New York.
Das russische Militär habe das, wofür es beschuldigt werde, nicht getan, es habe keine Gräueltaten gegen Zivilisten in der Ukraine begangen. „Das ist nicht der Fall, das war nicht der Fall, und das wird nie der Fall sein“, sagte er. Für all das habe Russland Beweise, die es so bald wie möglich dem UN-Sicherheitsrat vorlegen werde, sagte Nebensja weiter.
Die Maxar-Satellitenbilder vom 19. und 21. März zeigen jedoch, dass sich bereits zu diesem Zeitpunkt mehrere Leichen auf der Jablonska-Straße in Butscha befanden. Die „New York Times“ verglich diese Bilder zudem mit diversen Aufnahmen von ukrainischen Beamten und internationalen Medien und bestätigte, dass einige der Leichen sich bereits Wochen vor dem russischen Abzug in der gezeigten Position befunden hatten.
Auch nach Ansicht des US-Verteidigungsministeriums sind die russischen Streitkräfte für die Gräueltaten in der ukrainischen Stadt Butscha verantwortlich. „Ich denke, es ist ziemlich offensichtlich – nicht nur für uns, sondern für die Welt – dass russische Kräfte für die Gräueltaten in Butscha verantwortlich sind“, sagte der Sprecher des Pentagons, John Kirby, am Montag. Die USA könnten nicht genau sagen, welche Einheiten dort im Einsatz gewesen seien, aber es gebe keine Zweifel, dass die Gräueltaten stattgefunden hätten und eine Tat der russischen Kräfte seien, sagte Kirby.
Der ukrainische Innenminister Denys Monastyrskyj hat eine schnelle unabhängige Überprüfung und Dokumentation der Gräueltaten von Butscha zugesichert. „Sobald die Brücken repariert sind, die die Russen beim Rückzug gesprengt haben, werden Sachverständige Zugang erhalten“, sagte er dem „Tagesspiegel“ (Dienstag).
„Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz ist schon involviert in die Beweismittelsammlung“, sagte der Minister. Auch Fachleute des Internationalen Strafgerichtshofs und anderer Behörden sollen einbezogen werden.
Lage in Borodjanka könnte noch schlimmer sein
Die russischen Truppen formieren sich nach Angaben des ukrainischen Generalstabs neu und bereiten eine Offensive im Donbass im Südosten der Ukraine vor. „Das Ziel ist, die volle Kontrolle über das Territorium der Gebiete Donezk und Luhansk zu erlangen“, hieß es in der bei Facebook veröffentlichten Erklärung des Generalstabs.
In den Regionen Donezk und Luhansk konzentriere das russische Militär seine Bemühungen darauf, die Kontrolle in den Städten Popasna und Rubischne zu übernehmen sowie die volle Kontrolle über Mariupol zu erlangen, hieß es. Andere Städte und Siedlungen in den zwei Regionen würden konstant beschossen. Nach Angaben des ukrainischen Generalstabs blockieren russische Truppen auch weiterhin die zweitgrößte Stadt des Landes, Charkiw.
Nach dem Teilrückzug russischer Truppen spiele sich laut der ukrainischen Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa in anderen Teilen des Landes eine „ähnliche humanitäre Situation“ ab wie in der Kleinstadt Butscha. Dazu gehörten Gegenden rund um die Städte Sumy und Tschernihiw im Norden der Ukraine, sagte Wenediktowa am Montag im ukrainischen Fernsehen.
Wenediktowa ergänzte, die Lage im weiter Ort Borodjanka sei womöglich viel schlimmer als in Butscha. Die Kleinstadt war bis vor kurzem ebenfalls von russischen Truppen gehalten worden. Was dort vorgefallen sein soll, erläuterte die Generalstaatsanwältin zunächst nicht, sagte aber: „Die schlimmste Situation im Hinblick auf die Opfer“ gebe es dort. „Ich denke, wir werden gesondert über Borodjanka sprechen“, sagte sie. Die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft hat nach eigenen Angaben insgesamt bereits mehr als 7000 Meldungen über russische Kriegsverbrechen in der Region um Kiew registriert.
Auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat betont, die Verbrechen von Butscha und anderen ukrainischen Städten lückenlos aufklären zu wollen. Dazu arbeite man unter anderem mit der EU und dem Internationalen Strafgerichtshof zusammen, sagte er in einer Videobotschaft, die in der Nacht zu Dienstag veröffentlicht wurde. Die Verantwortlichen sollen für die Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden.
„Die Zeit wird kommen, in der jeder Russe die ganze Wahrheit darüber erfahren wird, wer von ihnen seine Mitbürger getötet hat. Wer Befehle gegeben hat. Wer bei den Morden ein Auge zugedrückt hat“, sagte Selenskyj. Er lud Journalisten aus der ganzen Welt ein, sich die zerstörten Städte anzusehen. „Lassen Sie die Welt sehen, was Russland getan hat!“
Selenskyj berichtete in der Videobotschaft von seinem Besuch in Irpin und Butscha. „Die Städte sind einfach zerstört.“ Die Leichen auf den Straßen seien demnach bereits von den meisten Straßen geborgen worden. In den Hinterhöfen und Häusern lägen aber immer noch Tote. Selenskyj befürchtete, dass russische Truppen nun versuchten, „die Spuren ihrer Verbrechen zu verwischen“ – anders als in Butscha.
Eine Einwohnerin von Butscha trauert um ihren getöteten Mann.
Unterdessen wurden in einer Ortschaft westlich von Kiew nach ukrainischen Angaben die Leichen einer Bürgermeisterin und von vier weiteren Zivilisten mit gefesselten Händen gefunden. Die Polizei zeigte Reportern der Nachrichtenagentur AFP am Montag vier Leichen, halb begraben in einem Wald nahe dem Haus der Bürgermeisterin in Motyschyn, das rund 30 Kilometer von Butscha entfernt ist. Eine fünfte Leiche wurde in einem Brunnen im Garten gefunden.
Die Bürgermeisterin Olga Suchenko, ihr Ehemann und der gemeinsame Sohn seien am 24. März von russischen Soldaten verschleppt worden, teilte die Polizei mit. Laut Bewohnern des Orts hatten sie sich geweigert, mit den russischen Truppen zusammenzuarbeiten. Bei den beiden anderen Leichen handele es sich um Männer, die nicht mit der Familie der 50-jährigen Bürgermeisterin verwandt seien.
Klitschko warnt vor verfrühter Rückkehr
Der Bürgermeister der ukrainischen Hauptstadt Kiew, Vitali Klitschko, hat die geflohenen Bewohner der Vororte dazu aufgerufen, mit der Rückkehr „noch mindestens eine Woche“ zu warten. „Zunächst gilt in mehreren Bezirken des Kiewer Gebiets eine Ausgangssperre rund um die Uhr“, sagte er am Montag. Außerdem hätten die Behörden nach dem Abzug russischer Truppen „zahlreiche Sprengsätze gefunden, die eine große Gefahr darstellen können“.
Schließlich warnte Klitschko vor weiteren Raketenangriffen. „Deshalb bitte ich die Menschen, ein wenig zu warten und nicht zurückzukommen“, sagte er.
Wegen der vermuteten Kriegsverbrechen durch Russland fordern die USA und Großbritannien die „Suspendierung“ Russlands aus dem UN-Menschenrechtsrat. „Wir können nicht zulassen, dass ein Mitgliedstaat, der dabei ist, alle Prinzipien zu untergraben, die uns am Herzen liegen, am UN-Menschenrechtsrat teilnimmt“, erklärte die US-Botschafterin bei der UNO, Linda Thomas-Greenfield, am Montag auf Twitter. „Die Bilder von Butscha und die Verwüstung in der gesamten Ukraine zwingen uns nun, unseren Worten Taten folgen zu lassen.“
Thomas-Greenfield bezichtigte Russland, seinen Sitz im Rat als „Propagandawerkzeug“ zu benutzen. Die britische Außenministerin Liz Truss erklärte auf Twitter ihre Unterstützung. Sie verwies auf die „starke Vermutung von Kriegsverbrechen“ und die Berichte über „Massengräber und grausames Töten in Butscha“.
Zwei ukrainische Soldaten gehen auf einer Straße der Stadt Butscha, die übersät ist mit zerstörten russischen Militärfahrzeugen.
Die USA und Großbritannien glauben, dass sie die nötige Zwei-Drittel-Mehrheit in der UN-Generalversammlung für eine Suspendierung Russlands aus dem Gremium erreichen können. Dem US-Radiosender NPR sagte die US-Botschafterin, dass sie eine Abstimmung darüber „diese Woche und möglicherweise schon am Donnerstag“ anstrebe.
Der stellvertretende UN-Sprecher Farhan Haq sagte dazu: „Was uns hier beunruhigt, ist der Präzedenzfall, der durch diese Maßnahme geschaffen wird.“ Die Entscheidung über eine Suspendierung Russlands liege letztendlich aber bei den Mitgliedstaaten.
Im März 2011 hatte die UN-Generalversammlung die Suspendierung Libyens vom Menschenrechtsrat in Genf beschlossen. Anders als Libyen ist Russland jedoch ein ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats, eines der wichtigsten Organe der UNO.
Neue russische Angriffe auf ukrainische Städte
Unterdessen sind bei russischen Angriffen auf die südukrainische Stadt Mykolajiw nach ukrainischen Angaben mehrere Menschen getötet und verletzt worden. Der Gouverneur des Gebietes, Witalij Kim, schrieb am Montagabend auf Telegram von elf getöteten und 62 verletzten Menschen.
Der Bürgermeister der Stadt, Oleksandr Sjenkewitsch, schrieb zuvor auf Telegram von zehn Getöteten und 46 Verletzten. Nach seinen Angaben wurden Wohnhäuser, Krankenhäuser, Kindergärten, Schulen sowie ein Waisenhaus beschossen. 120 Menschen hätten die Stadt am Montag mit Evakuierungsbussen verlassen. Die Angaben ließen sich nicht unabhängig prüfen.
Im Osten der Ukraine in Awdijiwka starben zudem am Montag nach Angaben des Gouverneurs des Gebiets Donezk, Pawlo Kirilenko, zwei Menschen, wie die „Ukrajinska Prawda“ schreibt. Dort und in Georgiewka, Nowoselowka und Wosdvyschenka wurden demnach neun Menschen verletzt.
Die USA gehen ebenfalls davon aus, dass Russland seine Truppen im Osten der Ukraine aufstockt. Zehntausende Soldaten sollten offenbar dorthin verlegt werden, sagt der nationale Sicherheitsberater Jake Sullivan.
Russland fordert Kapitulation in Mariupol
Besonders dramatisch ist die Lage weiterhin im südukrainischen Mariupol. Russland hat die ukrainischen Streitkräfte in der umkämpften Hafenstadt erneut aufgefordert, ihre Waffen niederzulegen. Die Bataillone der ukrainischen Streitkräfte und die ausländischen Söldner, so wörtlich, sollten an diesem Dienstagmorgen über einen Korridor sicher die Stadt in Richtung der von Kiew kontrollierten Gebiete verlassen können, sagte der Generalmajor Michail Misinzew vom russischen Verteidigungsministerium am Montag. „Allen, die ihre Waffen niederlegen, wird das Leben garantiert“, sagte er.
An diesem Dienstag solle außerdem erneut versucht werden, auch Zivilisten und ausländische Bürger aus der Stadt am Asowschen Meer in Sicherheit zu bringen, sagte er. In den vergangenen Tagen habe die ukrainische Seite immer wieder verhindert, Menschen aus Mariupol herauszubringen.
Währenddessen heißt es von ukrainischer Seite, dass Mitarbeiter des Roten Kreuzes am Montagabend von russischen Truppen in der ukrainischen Ortschaft Manhusch festgehalten worden seien. Das Team versuche seit Freitag, in die schwer umkämpfte Hafenstadt Mariupol zu gelangen, sagte die ukrainische Vize-Regierungschefin Iryna Wereschtschuk nach Angaben der Agentur „Ukrinform“.
Es handle sich um sieben Busse, die Zivilisten entlang einer mit Russland vereinbarten Route aus Mariupol herausbringen sollten. „Busse sind in Mariupol nicht erlaubt. Die Menschen reisen nur mit ihren eigenen Autos“, sagte Wereschtschuk. Trotzdem konnten am Montag Wereschtschuk zufolge 1553 Menschen die Stadt in privaten Autos verlassen. Insgesamt konnten sich am Montag demnach 3376 Menschen aus umkämpften Gebieten in der Ukraine in Sicherheit bringen. Die Angaben ließen sich nicht unabhängig prüfen.
Wereschtschuk erklärte außerdem, dass sich derzeit etwa 600 russische Soldaten in Kriegsgefangenschaft der Ukraine befänden. Das sagte sie am frühen Dienstagmorgen nach Angaben der „Ukrajinska Prawda“ im Einheitsprogramm des ukrainischen Fernsehens. Man suche nach Wegen, über das Rote Kreuz Ukrainer in russischer Kriegsgefangenschaft zu erreichen, und wolle Russland dazu bringen, sie freizulassen. In den Gebieten der selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk seien einige Menschen bereits seit 2014 in russischer Kriegsgefangenschaft.