Wednesday, April 6, 2022

Russlands Armee: Gewaltexzesse überall

ZEIT ONLINE Russlands Armee: Gewaltexzesse überall Maxim Kireev - Gestern um 15:04 Tschetschenien, Syrien, nun die Ukraine: Russlands Armee hat eine lange Geschichte brutaler Kriegsführung. Die Ursachen reichen bis tief in die russische Gesellschaft. Zu schrecklich, um es einfach so zu glauben. Die Bilder von Leichen auf den Straßen von Butscha, einem gepflegten und friedlichen Vorort von Kiew, von eilig zugeschaufelten Massengräbern und zerschossenen Einfamilienhäusern – sie sind schockierend. Selbst jene in Russland, die von Anfang an Wladimir Putins Angriff auf die Ukraine als Verbrechen bezeichneten, konnten es vielfach nicht wahrhaben. Vielleicht waren es doch nicht die eigenen Soldaten? Doch die Beweislast gegen die russische Armee ist erdrückend. Satellitenaufnahmen vom März zeigen, dass die Leichen bereits seit Tagen und Wochen auf den Straßen liegen. Dutzende ausländische Journalisten haben diese Orte und auch die Gräber von Butscha gesehen. Mehr noch: Die Bilder aus der zerstörten Hafenstadt Mariupol lassen erahnen, dass Butscha kein einmaliger Exzess war. Doch wie konnte es so weit kommen? Über die genauen Tathergänge weiß die Welt bisher noch wenig. Ob die Morde geplant, gar von oben angeordnet oder das Ergebnis einer außer Kontrolle geratenen Besatzung von ukrainischen Städten waren, ist noch nicht klar. Erste Augenzeugenberichte und Interviews deuten darauf hin, dass die Gewalt nicht sofort begann, aber sich allmählich steigerte und schließlich in den Terror umschlug, von dem die Bilder zeugen. Dieses Muster scheint sich in die unrühmliche Geschichte der russischen Streitkräfte seit den Zeiten der späten Sowjetunion einzureihen. Ob in Afghanistan, in Syrien oder bei Konflikten im Inneren des Landes agierten Russlands Soldaten oft mit unerklärlicher Brutalität. Noch als der vom Westen umgarnte Präsident der UdSSR, Michail Gorbatschow, ethnische Unruhen in der Teilrepublik Aserbaidschan 1990 durch 20.000 sowjetische Soldaten niederschlagen ließ, lief der Einsatz aus dem Ruder. Bei chaotischen Schießereien in der damaligen Regionalhauptstadt Baku wurden etwa 90 Zivilisten getötet. Wenige Jahre später in Tschetschenien überredeten Boris Jelzins Generäle den Präsidenten, die Hauptstadt der abtrünnigen Republik zu stürmen. Als dies nicht gelang, wurde die Metropole durch Artillerie und Luftschläge niedergebombt, ähnlich wie es gerade mit Mariupol in der Ukraine geschieht. Der Krieg gegen die Separatisten in Tschetschenien endete 1996 vorübergehend mit einem für Russland schmachvollen Waffenstillstand, bis zu 100.000 zivile Opfer wurden gezählt. Die Blutspur des russischen Militärs zog sich seitdem bis nach Syrien, wo russische Flieger allem Anschein nach vorsätzlich Krankenhäuser bombardierten. Ein UN-Bericht hat diese Angriffe dokumentiert. Dieses Logbuch der Gewalt lässt die Eskalation in der Ukraine einerseits logisch erscheinen. Andererseits können vergangene Ereignisse keine Begründung für das heutige Geschehen liefern. Der Blick muss vielmehr tiefer in die russische Gesellschaft der Gegenwart gerichtet werden. Zwar ist Russland längst ein anderes Land als unmittelbar nach dem Ende der Sowjetunion und auch während der beiden Tschetschenienkriege. Weniger gewalttätig, so scheint es: Die Anzahl der Kapitalverbrechen und Morde ist kontinuierlich gesunken, ebenso wie die Zahl der Gefängnisinsassen, die sich seit 2010 auf 480.000 fast halbiert hat. "Im Privaten haben Werte wie ein glückliches Familienleben, Konsum, Komfort und Erfolg zunehmend die Oberhand gewonnen", sagt die Politologin Ekaterina Schulmann. Wer in Russland ein bürgerliches Leben führt oder Geschäfte treibt, bekommt kaum mit, wie sehr dennoch das staatliche System durchdrungen bleibt von Gewalt. Folter in Gefängnissen, Misshandlungen und Gewalt beim Militär, Brutalität bei Polizei und Nationalgarde, Repressionen gegen Oppositionelle bis hin zu regelmäßigen Anschlägen mit Nervengift. Während viele Russinnen und Russen sich unter Putins Herrschaft ins Privatleben zurückgezogen haben, wucherte in staatlichen Institutionen und auch in der staatlichen Propaganda ein regelrechter Gewaltkult. Die Botschaft dabei: Der Stärkere hat immer recht. Die Folge davon ist eine lange Liste von Gewaltexzessen, die aber von der russischen Gesellschaft wie von der westlichen Öffentlichkeit größtenteils mit Schulterzucken registriert wurden. Erst im vergangenen Jahr hat ein ehemaliger Häftling Aufzeichnungen von Überwachungskameras seiner Haftanstalt an Wladimir Osetschkin weitergegeben, den Gründer der NGO Gulagu.net, die sich gegen Folter einsetzt. Diese Videos dokumentieren jahrelange systematische Folter in russischen Gefängnissen. Weitere Beispiele aus anderen Anstalten folgten wie nach einem Dammbruch. "Viele Jahre habe ich von einer Faschisierung Russlands gesprochen", schrieb Osetschkin nun in seinem Blog nach den Berichten aus Butscha. "Wir haben gewarnt, dass das Regime für die Russen und die Welt gefährlich ist." Gehört haben ihn nur die wenigsten. Eine nennenswerte Reaktion der Gesellschaft blieb aus, auch wenn Putin den zuständigen Chef der Justizvollzugsbehörde nach dem Skandal austauschen ließ. Reformiert wurde die Behörde nicht. Die Tortur der Rekruten Gewaltexzesse beim Militär konnten der Armeeführung bislang zumindest nichts anhaben. So wurden im vergangenen Herbst zwei ranghohe Angehörige einer Spezialeinheit des militärischen Nachrichtendienstes in der Region Chabarowsk wegen Misshandlungen und sexueller Gewalt angeklagt. Major Oleg Panin soll einen seiner Untergebenen dabei mit einem Besenstiel vergewaltigt haben, weil dieser kein Schutzgeld zahlen wollte. Insgesamt sollen etwa 20 Rekruten ähnliche Torturen erlitten haben. Wenige Wochen später berichtete die Nowaja Gaseta von zwei Selbstmorden von Wehrpflichtigen in einer Einheit in Petrosawodsk in Nordrussland. Gründe sind bislang nicht bekannt. Ende Februar beklagte das Komitee der Soldatenmütter, eine NGO, die sich für Soldatenrechte einsetzt, dass Wehrpflichtige mit Gewaltandrohung dazu gedrängt worden seien, sich für den Einsatz in der Ukraine verpflichten zu lassen. Später musste der Kreml einräumen, dass einige Wehrpflichtige tatsächlich in den Krieg gegen die Ukraine gezogen sind. Gewalt mussten auch jene erfahren, die zuletzt gegen Putins Einmarsch in die Ukraine auf die Straße gegangen sind. In den vergangenen fünf Wochen wurden bislang mindestens 15.000 Menschen vorübergehend festgenommen. So berichtete etwa die 26-jährige Alexandra Kaluschskich, dass ein Polizist sie nach der Festnahme verprügelt habe, als sie sich weigerte, auf Fragen nach ihrer politischen Gesinnung und ihrem Privatleben zu antworten. Auch Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch bestätigten zuletzt, dass es nach Protesten zu Folter und Gewalt gekommen ist. Dieser Terror, dem in Russland sowohl Gegner als auch Teile des Staatsapparates täglich ausgesetzt sind, schwappt nun seit Wochen in extremer Form auch über die russische Grenze in die Ukraine. Die rücksichtslosen Kämpfe um Mariupol, die Bombardierung von Krankenhäusern und Verwaltungsgebäuden in Mykolajiw, Beschuss von zivilen Fahrzeugen und schließlich Massaker wie in Butscha spiegeln dabei das System, das in Russland nach innen herrscht – und das sich nun die Ukraine unterwerfen will.