Wednesday, April 6, 2022

Russland: Unsere Schuld, unsere Verantwortung

ZEIT ONLINE Russland: Unsere Schuld, unsere Verantwortung Olga Romanowa - Gestern um 20:24 Die Russen laden durch den Ukraine-Krieg Schuld auf sich. Sie werden sich ihr stellen müssen, so wie die Deutschen sich ihrer stellten. Sonst hat Russland keine Zukunft. Irina Bogat und ihr Mann Igor Sacharow leben seit zwanzig Jahren in Deutschland. Igor ist der Gründer eines der bekanntesten Verlagshäuser in Russland, des Sacharow-Verlags, und Irina ist die Direktorin dieses höchst angesehenen Unternehmens. Gleich nach Beginn des Krieges verbrannte Igor Sacharow seinen russischen Pass. Nicht öffentlich, nicht vor der Botschaft, sondern er hat ihn einfach in den Aschenbecher gelegt und das Feuerzeug drangehalten. Irina sagt: "Wir haben keine zweite Staatsangehörigkeit, also sind wir jetzt ohne Papiere. Besser, wir fahren nach dem Krieg zum Wiederaufbau in die Ukraine. Ich habe schon die Papiere meiner Eltern, Großmütter und Großväter gesammelt. Die sind alle in der Ukraine geboren. Ich will unbedingt die ukrainische Staatsangehörigkeit." Die russische werden sie aufgeben. Ich frage: "Irina, Igor, kann ich darüber schreiben?" "Ja, schreib' ruhig. Mit Namen." "Dann wird man euer Unternehmen in Russland vernichten." "Jetzt ist keine Zeit, in der man an so etwas denkt. Schreib' nur." Viele meiner russischen Freunde und Bekannten, die in Deutschland leben, wollen ihren Pass in der Botschaft abgeben. Das ist nicht so einfach und verlangt ihnen viel ab, doch lindert ein solcher Schritt wenigstens ein bisschen den Schmerz. So wie die Freiwilligenarbeit auf den Bahnhöfen, das Leisten humanitärer Hilfe, die europaweite Suche nach Unterkünften für Ukrainer, die Beschaffung von dringend benötigten Medikamenten, die Arbeitsvermittlung für Geflüchtete und vieles andere mehr. Unermüdliche Freiwilligenarbeit ermöglicht es einem, einzuschlafen, nachdem man alles gegeben hat, und man starrt wenigstens eine Zeit lang nicht auf die fürchterlichen Bilder des Krieges: auf die Straßen Butschas, gefüllt mit toten Einwohnern. Auf die beschossene Geburtsklinik in Mariupol, die getöteten Kinder. Sie sind stolz darauf, dass ihre Söhne in der Ukraine starben Die Mütter der in der Ukraine gefallenen Soldaten treten im russischen Fernsehen auf; in den Zeitungen werden Interviews mit ihnen gedruckt. Es ist nicht klar, wie, aber diese unglücklichen Frauen haben vollkommen den Instinkt verloren, ihre Kinder zu schützen. Sie sind stolz darauf, dass ihre Söhne in der Ukraine starben, und meinen, dass diese dort den Frieden und vor allem Russland verteidigten. Die Mütter sind überzeugt: Wenn die russischen Truppen nicht in der Ukraine einmarschiert wären, hätte die Ukraine ganz gewiss Russland überfallen. Wie hat die Propaganda im 21. Jahrhundert die Russinnen und Russen derart für dumm verkaufen können? Die Antwort hierauf ist wohl ausgerechnet in Deutschland zu finden. Als Hermann Göring während der Nürnberger Prozesse im Gefängnis saß, hat er sich vom Psychologen Gustave M. Gilbert befragen lassen. Der NS-Kriegsverbrecher sagte: "Nun, natürlich, das einfache Volk will keinen Krieg. Warum sollte irgendein armer Landarbeiter im Krieg sein Leben aufs Spiel setzen wollen, wenn das Beste ist, was er dabei herausholen kann, dass er mit heilen Knochen zurückkommt." Göring meinte, dass die einfachen Leute in keinem Land der Welt kämpfen wollen, da dies charakteristisch für die menschliche Natur sei. Doch wissen Politiker oft genug, wie man Menschen dennoch dazu bringt, ein anderes Land anzugreifen. Die Spitze des NS-Staates kannte dieses Rezept laut Göring in jedem Fall: "Das ist ganz einfach. Man braucht nichts zu tun, als dem Volk zu sagen, es würde angegriffen, und den Pazifisten ihren Mangel an Patriotismus vorzuwerfen und zu behaupten, sie brächten das Land in Gefahr. Diese Methode funktioniert in jedem Land." Seit mehreren Generationen ziehen die Deutschen die bitteren Lehren daraus. Jetzt aber gilt es zu ergründen, warum so viele Russen und Russinnen offensichtlich Krieg wollten. Sollte das alte Rezept etwa noch funktionieren? Ja, das tut es. Und bis zur Reue ist es noch ein weiter Weg. Die Deutschen haben ihre Lektion gelernt. Die Russinen und Russen haben mit diesem Prozess noch nicht einmal begonnen. Denn der Prozess, sich seine Schuld und Verantwortung bewusst zu machen, erfasst derzeit – mit großer Mühe – nur einen kleinen Teil der liberalen russischen Intelligenzija. Wer das Land verlassen hat, sagt es öffentlich. Wer geblieben ist, schweigt meist, weil es im heutigen Russland sehr gefährlich ist, derlei Gedanken zu äußern. Über Verantwortung sinnieren und debattieren nun jene, die am wenigsten an diesem Krieg beteiligt sind. Jene, die auf die Straße gingen, um gegen das Putin-Regime zu protestieren. Die für freie Wahlen in Russland und für Meinungsfreiheit kämpften. Jene, die unabhängige Medien schufen und politische Gefangene unterstützten. Ihr Glauben an die Zukunft ist jetzt zerstört. Russland wird die Verantwortung zu tragen haben. Jeder Russe und jede Russin. Denn die Schuld ist kollektiv. Wer aber am Krieg beteiligt ist; wer jetzt das abscheuliche "Z"-Symbol auf sein Auto klebt und diesen unglückseligen Buchstaben mit den Körpern von Schülern und Kita-Kindern arrangiert; und wer das Wort "Faschist" an die Türen von Pazifisten schmiert, dem ist noch nicht bewusst: Die Verantwortung ist unausweichlich. Deshalb sind die Erfahrungen, die Deutschland gemacht hat, für uns nun so wichtig. Die Russen sind jetzt in einer ähnlichen Lage wie die Deutschen vor 75 Jahren. Mit einem Unterschied: Die heute lebenden Deutschen können nicht die unmittelbare Schuld für die Taten ihrer Großväter und Urgroßväter tragen. Wir Russen und Russinnen aber, wir müssen die unsrige tragen, denn es ist unsere Schuld. Wie soll diese Verantwortung aussehen? Welche Reue muss es geben? Reparationen? Ein Tribunal in Mariupol? Eine Entputinisierung? Das steht jetzt noch nicht zur Debatte. Denn nur ein kleiner Teil der russischen Gesellschaft versteht, dass dies unausweichlich ist. Was aber ist mit der großen Mehrheit? Wie soll man mit Landsleuten reden, die den Krieg unterstützen? Was soll man den Lehrern sagen, die ihren Schülern erzählen, dass die Ukraine kein richtiges Land sei? Wie soll man mit Kindern umgehen, die ihre Lehrer denunzieren, wenn die sich – und sei es nur zaghaft – für Frieden aussprechen? Wie sollen wir jetzt leben, wenn wir uns an den Stolz auf unser Land und unsere Kultur gewöhnt haben und sich plötzlich herausstellt, dass uns das nicht vor diesem Irrsinn bewahrt? Wie können wir die Schuld annehmen? Viele Russen und Russinnen sagen jetzt, dass sie persönlich keine Schuld tragen. Die Deutschen kennen das: Bald werden andere Russen kommen und sagen, dass sie nur Befehle ausgeführt haben. Wofür also wird uns allen die Schuld gegeben? Die Russinnen und Russen sind bislang nicht bereit zu akzeptieren, dass sie nun gehasst werden. Viele Ukrainer sagen uns jetzt: Wir geben uns sehr große Mühe, euch nicht zu hassen. Einige haben aber nicht mehr die Kraft dazu. Rührende Aufrufe von Russen wirken wie Hohn Von diesem Unverständnis und dieser Ablehnung schreibt Ksenija Larina, eine bekannte Journalistin des mittlerweile geschlossenen Radiosenders Echo Moskwy: "Seit Beginn des Krieges beobachte ich in den sozialen Netzwerken die gleichen Muster des Missverstehens. Ein Russe (oder ein ehemaliger Russe, der in einem anderen Land lebt) verfasst einen ergreifend friedensliebenden Post, in dem er den Ukrainern eine Umarmung anbietet, oder dass man zusammen weint und etwas aufbaut, um zu zeigen, dass es zwischen normalen Menschen keine Feindschaft gibt. Oder er postet ein Bild mit sich umarmenden Menschen in den Farben der beiden Länder. Oder ein Video, in dem zur Umarmung aufgerufen wird. In den Kommentaren erlebt der Autor dann eine aggressive und äußerst heftige Reaktion jener, an die seine Friedenssignale gerichtet sind." Zu Freundschaft und Brüderlichkeit rufen in der Regel denkende und mitfühlende Menschen auf, die den Krieg als etwas absolut Böses verurteilen und nichts Schlechtes im Sinn haben. Jetzt aber wirken diese rührenden Aufrufe wie Hohn. Das durch den Krieg ausgelöste Trauma ist riesig. Und der Krieg hört nicht auf. Niemand weiß derzeit, wie er zu beenden wäre. Die Ukrainerinnen und Ukrainer werden der gegenwärtigen Generation von Russinnen und Russen wohl nie verzeihen. Womöglich werden erst unsere Kinder und Enkelinnen einen Weg zur gegenseitigen Verständigung suchen. Eines aber muss dafür vorhanden sein: Reue. Es ist sehr schwer, die eigene Schuld und Verantwortung anzunehmen. Wir haben uns daran gewöhnt, stolz auf unser Land zu sein, auf unsere Kultur, auf die Siege und Heldentaten im Zweiten Weltkrieg. Jetzt haben wir Wladimir Putin. Aber steht Putin für das ganze Russland, ist das das Ende seiner Geschichte? Ja, es könnte auch das Ende bedeuten. Es bedarf sehr großer Anstrengungen, damit es das nicht tut. Und diese Anstrengungen sollten nicht geringer sein als jene, die Generationen von Deutschen unternommen haben. Dann könnte Reue den Anfang einer neuen Geschichte markieren. Schon zu Beginn der Perestroika Mitte der Achtzigerjahre hatte die russische Intelligenzija von Reue gesprochen. Davon, dass man für die Repressionen unter Josef Stalin, für die Deportationen und Verfolgung Andersdenkender, für den Holodomor Verantwortung zeigen muss. Reue setzt aber Anerkennung von Schuld voraus. Und nein, der russische Staat und die russische Regierung haben sich nie bei ihren Bürgerinnen und Bürgern entschuldigt, und sie hatten nie die Absicht, die Verbrechen der vor ihnen Herrschenden zu verurteilen. Die grausamsten unter ihnen – Iwan der Schreckliche, Peter der Große, Josef Stalin – gelten jetzt als Sammler der "russischen Erde" und als Vorbilder. Sie hatten niemals Erbarmen für ihre Mitbürger, ganz zu schweigen von den Bürgerinnen anderer Länder. Im 21. Jahrhundert braucht es das aber. Ob Russland das will oder nicht – klar ist, dass wir alle den Preis für die Verbrechen des Putin-Regimes zahlen werden müssen. Das "herrliche Russland der Zukunft", von dem der im Gefängnis sitzende Alexej Nawalny die ganze Zeit sprach, ist spätestens durch den Krieg, den man der Ukraine aufgezwungen hat, zerstört worden. Das zukünftige Russland wird nicht herrlich sein, es wird noch lange Zeit seine und fremde Wunden zu heilen und seine Schuld zu bewältigen haben. Es sieht allerdings nicht danach aus, dass das Land dies will oder wenigstens in Betracht zieht. Und sollte dem tatsächlich so sein, wird Russland keine Zukunft haben. Jens ist ein junger deutscher Bekannter von mir. Ein guter Kerl, aber wenn wir uns auf ein Bier treffen, muss ich stets zusehen, dass ich rechtzeitig gehe. Sonst kam in der Vergangenheit stets der Moment, in dem er sich an seinen Großvater erinnerte, der in Stalingrad war, und in dem Jens dann Reue bekundete. Und dann wusste ich nicht, wie ich mich verhalten sollte. Als Russland die Ukraine überfiel, holte Jens, der in Kiew studiert und in Sankt Petersburg gearbeitet hat, seine Uniform hervor (er hatte seinen Wehrdienst bei der Bundeswehr absolviert). "Ich werde Europa verteidigen, wenn Putin weiter vorrückt", sagte er. Und ich kann verstehen, dass er sich nicht mehr nur an Stalingrad erinnert.