Tuesday, April 5, 2022
Russische Experten verschärfen Ton nach Massaker: Jetzt sind alle Ukrainer Nazis
Russische Experten verschärfen Ton nach Massaker: Jetzt sind alle Ukrainer Nazis
Berliner Zeitung
Alexander Dubowy - Gestern um 15:31
Ende der vergangenen Woche begann der Abzug russischer Streitkräfte in Vollziehung der Ankündigung des Verteidigungsministeriums Russlands sowohl aus dem Norden der Ukraine als auch aus der Umgebung der Hauptstadt Kiew. Viele Beobachter vermuten dahinter nur eine taktische Maßnahme zur Umgruppierung und Vorbereitung neuer Offensivsoperationen. Denn noch am 1. April meldete der Fernsehsender des russischen Verteidigungsministeriums Zvezda, dass die russischen Marinesoldaten Ende März im Gebiet Hostomel-Butscha-Ozera intensive Such- und Aufklärungsoperationen durchführten sowie Siedlungen räumten mit dem Ziel, in diesem Gebiet Verteidigungsstellungen zu beziehen.
Nach dem Abzug Russlands aus den nördlichen Vorstädten Kiews boten sich den nachrückenden ukrainischen Streitkräften Bilder des Grauens. Die ersten Fotos und Videos von mit Leichen gesäumten Straßen der Kiewer Vorstadt Butscha waren bereits unmittelbar nach dem Abzug der russischen Streitkräfte am 1. April auf unterschiedlichen Sozialmedienkanälen zugänglich. Im gesamten Gebiet nördlich von Kiew sollen bisher die sterblichen Überreste von mehr als 400 Personen – vorwiegend Zivilisten, davon allein über 300 in Butscha – aufgefunden worden sein.
Aktuell gilt es, so rasch wie möglich Beweise zu sichern, die über die Täter und den Tathergang Aufschluss geben können. Sehr vieles deutet aber bereits heute darauf hin, dass es sich um ein Kriegsverbrechen handelt und die in Butscha aufgefundenen Menschen gezielt getötete Zivilisten waren. Zahlreiche Opfer haben verbundene Hände und sind offenbar aus kurzer Distanz erschossen worden. Nachdem sich die russischen Truppen aus Butscha sowie anderen Vorstädten Kiews zurückgezogen haben, sollte einem zeitnahen Beginn internationaler Untersuchungen nichts im Wege stehen.
Nach Einschätzung des international renommierten Menschenrechte-Experten Manfred Nowak, Generalsekretär des Global Campus of Human Rights in Venedig, Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen über Folter (2004–2010), habe der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (IStGHJ) vorgezeigt, wie präzise Ermittlungen sowie der Einsatz forensischer Experten in laufenden Konflikten erfolgen können.
Auf der Ebene der Vereinten Nationen obliegt die Aufklärung dem Internationalen Strafgerichtshof, dessen Zuständigkeit die Ukraine nach der russischen Annexion der Krim im Jahr 2014 einseitig anerkannte. Aus diesem Grund erstreckt sich die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofes über das gesamte Territorium der Ukraine unabhängig von der Identität der Täter. Darüber hinaus kündigte der UN-Menschenrechtsrat am 4. März an, ein Untersuchungsteam zur Aufklärung von Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen in der Ukraine einzusetzen. Manfred Nowak empfiehlt, die Ermittlung im Rahmen der Uno zu belassen und nicht auf der Ebene der EU durchzuführen, um noch nicht einmal ansatzweise den Anschein etwaiger potenzieller Einseitigkeit zu erwecken und die allfälligen Gegenargumente und die Kritik Russlands im Keim zu ersticken.
Über zwei Jahrzehnte schöpfte Wladimir Putin die innenpolitische Legitimität seines Machtsystems aus dem Faktor der inneren Stabilität heraus. Nach offizieller, vom Kreml propagierter Lesart war es der Politik Putins zu verdanken, dass die Gefahr des Zerfalls Russlands gebannt werden konnte und der russische Staat die Epoche der „chaotisch-anarchischen“ 1990er-Jahre, die in Anlehnung an das historische Vorbild vom Anfang des 17. Jahrhunderts als eine neue „Zeit der Wirren“ dargestellt wurden, erfolgreich überwunden hatte. Mehr als zwei Jahrzehnte lang galt die Idee der Stabilität von Putins Russland als oberstes – um jeden Preis zu verteidigendes – Gut, ja, als das zentrale identitätsstiftende Element – das Fundament des modernen russischen Staates.
Dieses – mühselig aufgerichtete und unverrückbar scheinende – Fundament der innenpolitischen Rechtfertigung des Machtsystems Putins hat die russische Führung bei vollem Bewusstsein und ohne Not innerhalb von nicht einmal sechs Wochen abgetragen. Die ungeheuerlichen Kriegsverbrechen in der Kiewer Vorstadt Butscha manifestieren die Unmöglichkeit der Rückkehr zum Status quo ante und ziehen den symbolischen Schlussstrich unter die Epoche der Scheinstabilität Russlands.
Währenddessen läuft der staatliche Propagandaapparat Russlands auf Hochtouren. Die zentrale Zielsetzung der Rechtfertigung und der Legitimation des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine wird mittlerweile von intensiven Versuchen der endgültigen Entmenschlichung der ukrainischen Bevölkerung begleitet. So veröffentlichte die staatliche Nachrichtenagentur RIA Novosti am 3. April – dem Tag des internationalen Bekanntwerdens des Massakers von Butscha – einen Kommentar des Publizisten Timofej Sergejcev unter dem Titel „Was Russland mit der Ukraine tun sollte“.
Darin beschreibt der Autor, wie die sogenannte von Präsident Putin verlangte Entnazifizierung der Ukraine durchzuführen sei. Nachdem die Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung von der Politik des Kiewer „Nazi-Regimes“ eingenommen worden sei und diese „passive Nazis“ seien, könne eine an und für sich übliche Trennung zwischen dem einfachen Volk und den verbrecherischen Behörden nicht mehr vorgenommen werden.
Die ukrainischen Streitkräfte als „aktive Nazis“ seien aufgrund ihrer direkten oder indirekten Beteiligung an „abscheulichen Grausamkeiten gegen die Zivilbevölkerung“ und am „Völkermord am russischen Volk“ mit Schuld beladen. Gegen die gesamte ukrainische Armee – und nicht nur gegen rechtsextreme Gruppen – müsse gnadenlos vorgegangen werden und diese sei so weit wie möglich „auf dem Schlachtfeld zu vernichten“, so Sergejcev.
Die Entnazifizierung der Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung besteht nach Ansicht Sergejcevs hingegen in der Umerziehung durch ideologische Repressionen und strenge Zensur sowohl im politischen als auch im Kultur- und Bildungsbereich. Die Entnazifizierung der Ukraine setze zwingend eine weitgehende Einschränkung der ukrainischen Souveränität voraus, selbst der Staatsname könne nicht beibehalten werden. Denn die Entnazifizierung müsse mit einer Ent-Ukrainisierung einhergehen. Mit der Forderung nach endgültiger Aufgabe „aller pro-europäischen und pro-westlichen Illusionen“ durch Moskau zur Bewahrung „klassischer europäischer Werte“, welche vom Westen abgelegt und nur noch in Russland zu finden seien, schließt Sergejcev seinen Kommentar ab.
Naheliegenderweise werden sich die Ereignisse von Butscha negativ auf die Friedensverhandlungen zwischen der Ukraine und Russland auswirken. Auch steht es zu befürchten, dass Butscha bei Weitem nicht der einzige Schauplatz von Kriegsverbrechen bleibt. Vor allem scheint angesichts russischer Kriegsverbrechen ein von Moskau verlangter Verzicht Kiews auf die Regionen Donezk und Luhansk so gut wie ausgeschlossen zu sein. Nach dem Besuch der Kiewer Vorstadt beschuldigte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj die russische Führung der Kriegsverbrechen und erklärte, dass ein Treffen zwischen ihm und dem russischen Präsidenten zunehmend unwahrscheinlicher erscheine.
Mit den Massakern in Butscha ging Wladimir Putin den am 24. Februar mit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine eingeschlagenen Weg konsequent zu Ende und führte Russland mit Vehemenz in die glanzlosen Reihen der Schurkenstaaten über. Einen gesichtswahrenden Ausstieg aus diesem Krieg kann es für Moskau spätestens nach Butscha nicht mehr geben. Von diesen Verbrechen wird sich weder die russische Führung noch die gesamte russische Gesellschaft freisprechen können.
Gerade angesichts der Kriegsverbrechen dürften sich die russischen Eliten nunmehr noch stärker um Wladimir Putin scharren und keine andere Option mehr sehen, als diesen Krieg mit unverminderter Brutalität fortzusetzen, Furcht und Schrecken zu verbreiten, ja, die Eskalationsschraube fester zu drehen, um entweder die Kapitulation Kiews herbeizuführen oder die wesentlichen Zielsetzungen durch Verhandlungen zu erzwingen. Das sind wirklich keine guten Aussichten und es steht zu befürchten, dass das Ende der Schrecken bei Weitem nicht erreicht ist.