Monday, April 4, 2022
"Moralische Emigration": Über den Exodus "russischer Europäer"
"Moralische Emigration": Über den Exodus "russischer Europäer"
Anastassia Boutsko - Vor 20 Min.
DW
In den Wochen des Ukraine-Krieges erlebt Russland den größten Exodus seit der Oktoberrevolution 1917 – eine Massenflucht von Intellektuellen. Wohin führt sie ihr Weg?
In der Nacht zum 4. März 2022 konnte der russische Investigativjournalist Andrej Loshak kaum schlafen - wie eigentlich auch in allen anderen Nächten nach dem 24. Februar, dem russischen Überfall auf die Ukraine. Er checkte seine Telegram-Kanäle - und unter unzähligen Horror-Nachrichten fand er auch diese: In allernächster Zukunft könnte in Russland das Kriegsrecht verhängt werden, was eine Ausreise aus dem Land unmöglich machen würde. Die über Wochen gereifte Entscheidung war auf einmal da: Er musste weg, und zwar sofort. Noch am selben Tag saß Loshak im Flieger nach Tiflis.
"Hier in Georgien habe ich gleich so viele Freunde und Kollegen aus Moskau und anderen russischen Städten getroffen, wie ich sie in den vergangenen Jahren in Russland nie gesehen habe", sagt Loshak. Auch die Kolleginnen und Kollegen der in Russland verbotenen Sender "Echo Moskvy" und "TV Rain" sind da, letztere bauen auch eine Redaktion auf. "Man ist hier unter Kollegen. Man hat das Gefühl, es ist eine ganze Schicht ausgewandert."
Ein Exodus von unerhörtem Ausmaß
Exakte Zahlen liegen nicht vor, aber eines ist klar: In den fünf Wochen nach Kriegsbeginn erlebte Russland den größten Exodus nach der Oktoberrevolution: Von mehreren hunderttausend ist auszugehen, einige Quellen nennen sogar die Zahl von über einer Million Menschen.
Genauere Zahlen zu nennen ist sehr schwer, da gerade die wichtigsten Zielländer, etwa Georgien oder Armenien, kein Einreisevisum von den Russinnen und Russen verlangen. Allein Georgien rechnet aber mit weit über 100.000 Flüchtigen aus Russland, eine ähnliche Zahl ist aus Armenien zu vernehmen. Weitere Zielländer sind Aserbaidschan, Dubai, die Türkei, Griechenland, Bulgarien, Serbien, Kasachstan, Kirgisien, Usbekistan und sogar Tadschikistan, die Mongolei und Lateinamerika.
Auch die traditionell großen Expat-Regionen in Montenegro und den baltischen Staaten, vor allem in Lettland, erleben einen massiven Zuwachs. Die verhältnismäßig wenigen Menschen, die die Möglichkeit hatten, nach Israel oder Westeuropa, vor allem Deutschland, auszuwandern, haben diese Chance ebenso ergriffen. Dabei kündigt kaum jemand seine Ausreise offiziell an - die meisten sind "mal eben weg". Niemand weiß, für wie lange.
Die russische Kult-Sängerin Zemfira verurteilt den Krieg
Doch wie verworren die Zahlen und wie abenteuerlich die Geografie der Auswanderungsbewegung teilweise auch sein mögen, so präzise kann man den Grund der Ausreisewelle einschätzen: "Wir erleben den größten Braindrain der jüngsten Geschichte", sagt Andrej Loshak. Es sind die Wissenschaftlerinnen und IT-Spezialisten, die Journalisten, Bloggerinnen und eben Kulturschaffende aus allen Sparten und Genres, die ihrer Heimat, die sich gegen die ganze Welt gestellt hat, den Rücken kehren.
"Der größte Braindrain der jüngsten Geschichte"
Regisseure, Schriftstellerinnen, Modemacher, Architektinnen, Kulturgrößen und Promis erster Güte sind dabei: Die Popkönigin Alla Pugatschowa baut sich etwa zusammen mit ihrem Komiker-Ehemann Maxim Galkin eine neue Existenz in Israel auf. Auch Talkmaster Ivan Urgant, die Nummer Eins im russischen Unterhaltungs-TV, ist bereits da. Rockstar Zemfira und ihre Partnerin, die international bekannte Schauspielerin Renata Litwinowa, halten sich in Paris auf. Dort (sowie jüngst in Berlin) wurde auch Regisseur Kirill Serebrennikov gesichtet, dessen Bewährungshaft Mitte März überraschend vorzeitig beendet wurde.
Auch die Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja gibt Interviews in ihrer Berliner Wohnung. Ihr Kollege Boris Akunin meldet sich aus London. Primaballerina Olga Smirnowa vom Bolschoi-Theater hat einen neuen Job in Amsterdam, der einflussreiche Video-Blogger und Filmemacher Juri Dud arbeitet von Istanbul aus.
Ballett-Tänzerin Olga Smirnowa arbeitet jetzt nicht mehr in Moskau, sondern in Amsterdam
Es haben aber bei weitem nicht nur die Gutbetuchten und Prominenten ihr Heimatland verlassen: Die meisten Flüchtigen – Kreative aus der Mittelschicht – sind mit einem Koffer und ein bisschen Bargeld ins Unbekannte gegangen (russische Kreditarten sind weltweit gesperrt und die Ausfuhr größerer Summen per Gesetz verboten). "Keiner von uns sucht zurzeit ein besseres Leben im Ausland", sagt Andrej Loshak. "Wir alle haben unsere Existenzen verloren. Ich würde die jetzige Welle eine moralische Emigration nennen: Unser Gewissen erlaubt es uns nicht, uns im heutigen Russland in einer 'Zig Heil' rufenden Menschenmenge aufzuhalten." (Das "Z" ist eine Anspielung auf das von der russischen Seite verwendete Symbol und Jubelzeichen, Anmerkung der Redaktion). Auch einen Sammelbegriff für die Ausreisenden hat er parat: "Ich würde uns 'russische Europäer' nennen".
Galina Yuzefovich: Ausreise als Privileg
Laut Levada-Zentrum, dem einzigen vom russischen Staat unabhängigen Meinungsforschungsinstitut, bilden europäisch orientierte Russinnen und Russen, die den Krieg in der Ukraine verurteilen, mindestens 20 Prozent der russischen Gesamtbevölkerung. Rein rechnerisch sind das also ungefähr 30 Millionen Menschen. Es sind aber nur sehr wenige, die tatsächlich ausreisen können.
"Wegzugehen ist heute weder eine mutige Tat - und auch nicht die einzige ethisch annehmbare Form, persönlichen Unmut über die aktuellen Ereignisse zum Ausdruck zu bringen", konstatiert die renommierte Literaturkritikerin Galina Yuzefovich, die mit ihrer Familie in die Südtürkei ausreiste. "Es ist eindeutig ein Privileg." Russland verlassen nicht die Besten, so Yuzefovich, "sondern schlicht diejenigen, die sich das irgendwie leisten können." Ihr Mitgefühl gilt vor allem denen, die bleiben und die - in einem offenen oder stillen Protest - unter andersgesinnten Mitbürgerinnen und Mitbürgern überleben müssen. Die Situation sei mit dem Deutschland der Nazi-Zeit vergleichbar.
Anton Dolin: Flucht als persönliche Niederlage
"Die russische Kultur, die wir bis heute kannten, hat am 24. Februar aufgehört zu existieren", konstatiert Anton Dolin trocken. "Und zwar jegliche – sowohl die offizielle als auch die, die im Oppositionsmodus funktionierte." Dolin ist der wohl renommierteste Filmkritiker Russlands, Publizist und öffentliche Person. Als Experte der Verteidigung hat er etwa im Prozess gegen den ukrainischen Filmregisseur Oleg Senzov ausgesagt.
"Meine grundsätzliche Position war stets: Ich würde nie aus Russland weggehen", sagt Dolin. Eine Woche nach Kriegsbeginn musste er diese Position aufgeben: Er hat mit seiner Familie das Land verlassen und hält sich seitdem in Lettland auf. "Ich betrachte nun meine Abreise als eine Form der persönlichen Kapitulation. Alles, was ich drei Jahrzehnte lang gemacht habe, eine Art kulturelle Resistance gegenüber den Machthabern, hat nun jeglichen Sinn verloren. Meine Lebensmission – Russland als einen Teil Europas zu positionieren – scheint gescheitert."
Dennoch hofft der Filmkritiker, dass "die schwere Krankheit, die Russland jetzt durchmacht, heilbar ist. Danach kommt die Phase der Buße für die Verbrechen, die jetzt in unserem Namen begangen werden. Die Rechnungen, die wir dann bezahlen müssen, werden hoch sein. Dennoch werde ich glücklich sein, in mein Land zurückzukehren. Ich habe keine andere Heimat."
Eine kurzfristige Rückkehr scheint jedoch kaum möglich: Wladimir Putin hat diejenigen, die das Land verlassen haben, als "Verräter der Nation" bezeichnet und zu Staatsfeinden erklärt.
Katerina Gordeeva und Chulpan Khamatova
"Ich weiß ganz genau, dass ich keine Verräterin bin", sagt Chulpan Khamatova. In den Augen der Schauspielerin stehen Tränen, ihre Stimme zittert. Über eine Stunde lang erzählt eine der berühmtesten Schauspielerinnen Russlands (in Deutschland auch bekannt durch ihre Rolle der Lara im Film "Good by, Lenin") der Starinterviewerin Katerina Gordeeva von ihrer Emigration. "Skaschi Gordeevoj" – "Sag es der Gordeeva" – nennt sich ihr YouTube-Kanal, jede Folge wird millionenfach geklickt. Chulpan Khamatova wirkt am Boden zerstört. 2012 hat sie Wladimir Putins Wahl-Kampagne unterstützt – im Gegenzug zu Putins Unterstützung von Khamatovas Stiftung "Schenk das Leben", die krebskranken Kindern hilft. Mit ihren drei Töchtern ging die Schauspielerin in den ersten Kriegstagen nach Lettland.
Sie sei keine Kämpferin, sondern Künstlerin, Frau und Mutter, gesteht sie. Am 24. Februar sei sie wieder ein hilfloses, siebzehnjähriges Mädchen geworden. Alles, was sie wolle, sei, dass "diese Dunkelheit sich lichtet", dass der Krieg aufhört. Wer wäre denn in der Lage den Krieg zu stoppen, fragt die Interviewerin. "Wladimir Wladimirowitsch Putin", sagt Chulpan und blickt traurig in die Kamera. "Der Präsident der Russischen Föderation."
Autor: Anastassia Boutsko