Saturday, April 9, 2022

Kein Schutz für Kinder und Alte: Studie zerlegt schwedischen Sonderweg

Berliner Zeitung Kein Schutz für Kinder und Alte: Studie zerlegt schwedischen Sonderweg Torsten Harmsen - Vor 4 Std. „Die schwedische Reaktion auf diese Pandemie war einzigartig und gekennzeichnet durch einen moralisch, ethisch und wissenschaftlich fragwürdigen Laissez-faire-Ansatz, eine Folge struktureller Probleme in der Gesellschaft“, urteilt das Autorenteam der Studie. Dessen Erstautorin Nele Brusselaers ist Professorin für Klinische Epidemiologie und arbeitet am Karolinska-Institut in Stockholm, das auch jährlich die Träger des Medizin-Nobelpreises auswählt. Ihre sieben Mitautorinnen und -autoren arbeiten an wissenschaftlichen Einrichtungen in Schweden und den USA. „Schweden war gut gerüstet, um zu verhindern, dass die Pandemie von Covid-19 ernst wird“, schreiben die Wissenschaftler. Sie verweisen auf eine mehr als 280-jährige Zusammenarbeit zwischen Politik, Behörden und Wissenschaft und viele Erfolge in der Präventivmedizin. In der Corona-Pandemie habe die schwedische Politik jedoch versagt. „Es wurde mehr Wert auf den Schutz des ‚schwedischen Images‘ gelegt als auf die Rettung und den Schutz von Leben oder auf einen evidenzbasierten Ansatz“, lautet das Urteil. Bei dieser Politik spielten neben der obersten Gesundheitsbehörde (Folkhälsomyndigheten, FHM) unter ihrem Leiter Johan Carlson der Chefepidemiologe Anders Tegnell eine entscheidende Rolle. Die Studie verweist darauf, dass eine klare Strategie der Regierung gefehlt und das Krisenmanagement der zuständigen Ministerien versagt habe. So habe „eine kleine Gruppe sogenannter Experten mit einem engen disziplinären Fokus“ eine unverhältnismäßige Macht erhalten können. Die schwedische Bevölkerung sei in Unkenntnis gehalten worden „über grundlegende Fakten wie die Übertragung von Sars-CoV-2 durch die Luft, die Tatsache, dass asymptomatische Personen ansteckend sein können und dass Gesichtsmasken sowohl den Träger als auch andere schützen“. Die oberste Gesundheitsbehörde habe vom Gebrauch von Masken und Schutzausrüstungen abgeraten. Um ihre eigenen Mitarbeiter zu schützen, sei die schwedische Gewerkschaft für Kommunalbeschäftigte im April 2020 sogar in einen lokalen Streik getreten – gegen die Linie der Behörde, „dass bei der Behandlung von Covid-19-infizierten Patienten keine angemessenen Gesichtsmasken oder persönliche Schutzausrüstungen erforderlich seien“. Die Autoren der Studie verweisen auf Triage-Situationen an mehreren Orten in Schweden. „Im Frühjahr 2020 wurden viele Personen nicht in die Krankenhäuser eingeliefert und erhielten nicht einmal eine Gesundheitsuntersuchung, da sie nicht als gefährdet galten – was dazu führte, dass Personen zu Hause starben, obwohl sie versuchten, Hilfe zu suchen“, schreiben sie. In der Region Stockholm habe es Triage-Anweisungen gegeben, aus denen hervorgehe, dass Personen mit Komorbiditäten, einem hohen Body-Mass-Index und einem Alter ab 80 Jahren nicht auf Intensivstationen aufgenommen werden sollten, da es unwahrscheinlich sei, dass sie sich erholten. Auf einen altersbezogenen „Selektionsbias“ deute auch die Altersverteilung auf den zum Teil sehr überlasteten Intensivstationen hin. „Nur sehr wenige ältere Menschen wurden wegen Covid-19 ins Krankenhaus eingeliefert“, schreiben die Forscher. Eine angemessene – möglicherweise lebensrettende – Behandlung sei ohne ärztliche Untersuchung, ohne Information des Patienten und Konsultation seiner Familie verweigert worden. „Vielen älteren Menschen wurde trotz verfügbarer Vorräte Morphium anstelle von Sauerstoff verabreicht, wodurch ihr Leben effektiv beendet wurde.“ Die Autoren kritisieren auch den fahrlässigen Umgang mit Kindern. Die schwedische Strategie habe sich „gegen jegliche Schulschließungen oder Maßnahmen zum Schutz von Kindern“ ausgesprochen, schreiben sie. Masken seien oft nicht erlaubt, Homeschooling nicht möglich gewesen – auch nicht „für Kinder mit Risikofaktoren oder Eltern, die eindeutig einem Risiko für schwere Covid-19-Infektionen ausgesetzt waren“. Wenn in solchen Fällen Kinder zu Hause geblieben seien, hätten Schulen und Kommunen Sozialdienste alarmiert. Geldstrafen seien verhängt worden. Die Studienautoren schreiben, dass immer noch viele Kinder an schwerem Long Covid litten, ein oder zwei Elternteile verloren hätten. Mehrere Kinder seien gestorben. Öffentlich habe die Gesundheitsbehörde bestritten, dass Kinder ansteckend sein könnten, „während ihre internen E-Mails ihr Ziel anzeigen, Kinder zur Verbreitung der Infektion in der Gesellschaft zu benutzen“, schreiben die Autoren. Insgesamt sei die Todesrate in Schweden mit 1790 Sterbefällen je eine Million Einwohner weitaus höher als die seiner vergleichbaren nordischen Nachbarn Dänemark (961), Norwegen (428) und Finnland (538), die alle einen härteren Anti-Pandemie-Ansatz verfolgt hätten, schreibt die amerikanische Zeitung Los Angeles Times in einer Kolumne über die Studie. Die Autoren analysieren auch Gründe für die Entwicklung. So sei die oberste Gesundheitsbehörde FHM 2014 mit dem Institut für die Kontrolle von Infektionskrankheiten fusioniert worden. Die erste Entscheidung des neuen Leiters Johan Carlson habe darin bestanden, die sechs Professoren der Behörde zu entlassen und an das Karolinska-Institut zu versetzen. „Mit dieser Konstellation fehlte es der Behörde an Fachwissen und sie konnte wissenschaftliche Fakten außer Acht lassen“, schreiben die Autoren in Nature. Die schwedischen Wissenschaftler empfehlen ihrem Land, „einen selbstkritischen Prozess in Bezug auf seine politische Kultur und die mangelnde Rechenschaftspflicht von Entscheidungsträgern einzuleiten“. Wenn Schweden bei künftigen Pandemien besser abschneiden wolle, müssten wissenschaftliche Methoden neu etabliert werden, nicht zuletzt innerhalb des Gesundheitsamtes. „Es würde wahrscheinlich einen großen Unterschied machen, wenn ein separates, unabhängiges Institut für die Kontrolle von Infektionskrankheiten neu geschaffen würde.“