Sunday, April 10, 2022
Großoffensive in Ostukraine befürchtet, Kiew will Panzer aus Düsseldorf – das geschah in der Nacht
Großoffensive in Ostukraine befürchtet, Kiew will Panzer aus Düsseldorf – das geschah in der Nacht
DER SPIEGEL
Johannes Korge - Vor 18 Std.
Russland und die Ukraine haben Gefangene ausgetauscht. Der Kiewer Staatschef Selenskyj sieht ein Treffen mit Putin in weiter Ferne. Und: Berlusconi ist enttäuscht vom Kremlchef. Der Überblick.
Was in den vergangenen Stunden geschah
Bei russischen Angriffen in der Region Donezk sind nach ukrainischen Angaben fünf Zivilisten getötet worden. In der Stadt Wuhledar gebe es vier Todesopfer, erklärte Gouverneur Pawlo Kyrylenko im Messengerdienst Telegram. Ein weiterer Zivilist sei in der nahegelegenen Ortschaft Nowomychailiwka getötet worden. Laut Angaben des Gouverneurs wurden bei den Angriffen auf die beiden südöstlich von Donezk gelegenen Orte zudem fünf Menschen verletzt.
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Nach dem Rückzug der russischen Armee aus dem Großraum Kiew und der Nordukraine befürchtet die ukrainische Regierung eine Großoffensive Russlands im Osten des Landes. Am Samstag teilte die ukrainische Armee auf Facebook mit, dass sie dort »vier Panzer, acht gepanzerte Fahrzeuge und sieben feindliche Fahrzeuge« sowie »ein Flugzeug, einen Hubschrauber« und Drohnen zerstört habe.
Weiter nördlich, in der Region Charkiw, wurden nach Behördenangaben mindestens zwei Menschen bei einem russischen Bombardement getötet. Ein Mensch sei zudem bei dem Angriff in Slatyne verletzt worden, teilte der Bürgermeister der Nachbargemeinde Dergatschi auf Facebook mit.
Das sagt Kiew
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat seine Forderung nach einem Importstopp von Öl aus Russland bekräftigt. »Wenn die Tyrannei eine Aggression gegen alles gestartet hat, worauf der Frieden in Europa ruht, müssen wir sofort handeln«, sagte er in einer am Samstagabend veröffentlichten Videobotschaft. Ein Öl-Embargo müsse der erste Schritt der »gesamten zivilisierten Welt« sein. »Dann wird Russland das spüren. Dann wird es für sie ein Argument sein, den Frieden zu suchen, die sinnlose Gewalt zu beenden«, sagte Selenskyj. Die demokratische Welt könne definitiv auf russisches Öl verzichten.
Das Ziel der »Anti-Kriegs-Koalition« sei klar – den Krieg schneller zu beenden, sagte der Präsident. »Deshalb ist es nicht nur eine moralische Verpflichtung aller demokratischen Staaten, aller Kräfte Europas, den Wunsch der Ukraine nach Frieden zu unterstützen.« Die russische Aggression werde sich nicht auf sein Land beschränken. »Das gesamte europäische Projekt ist ein Ziel für Russland.«
Die Ukraine rechnet nicht mit einem baldigen Treffen von Präsident Selenskyj mit seinem russischen Kollegen Wladimir Putin zu Verhandlungen über ein Ende des Krieges. »Zu sagen, dass sie sich in einer Woche, in zwei Wochen treffen werden – nein, das wird so nicht passieren«, sagte Präsidentenberater Mychajlo Podoljak am Samstag im ukrainischen Fernsehen. Kiew bereite sich zunächst auf Kämpfe im Donbass vor. Danach habe die Ukraine »eine stärkere Verhandlungsposition« für ein mögliches Präsidententreffen, sagte er.
Sein Land bestehe weiter auf starke Sicherheitsgarantien und zahle dafür einen sehr hohen Preis, meinte Podoljak. »Ja, es ist hart, wir verlieren jeden Tag Menschen und Infrastruktur. Aber Russland muss sich von seinen imperialen Illusionen befreien.«
Das sagt Moskau
Mehr als 700.000 Menschen aus den Separatistengebieten Donezk und Luhansk sowie anderen Teilen der Ukraine sollen nach Militärangaben in Moskau seit dem 24. Februar nach Russland evakuiert worden sein. Allein am Samstag hätten knapp 27.000 Menschen die umkämpften Regionen Richtung Russland verlassen, sagte Generaloberst Michail Misinzew vom russischen Verteidigungsministerium.
Aus der seit Anfang März umkämpften südukrainischen Hafenstadt Mariupol seien 134.000 Menschen gerettet worden, so Misinzew. Der Agentur Tass zufolge warf er der Kiewer Seite erneut vor, eine Flucht für bedrängte Zivilisten nur auf ukrainisch kontrolliertes Gebiet zu ermöglichen, nicht nach Russland.
Die russischen Zahlen sind nicht unabhängig zu überprüfen. Kiew wirft der Moskauer Seite vor, Flüchtlinge gegen deren Willen nach Russland zu bringen.
Humanitäre Lage
Dem Präsidialamt in Kiew zufolge konnten am Samstag mehr als 4500 Zivilisten aus den Regionen Donezk, Luhansk und Saporischschja flüchten. Vizeregierungschefin Iryna Wereschtschuk warf Russland vor, trotz einer Vereinbarung Busse für Flüchtende auf bestimmten Routen nicht passieren zu lassen. »Die Busse sind nach Saporischschja zurückgekehrt und werden am Sonntag erneut versuchen, die Städte zu erreichen, um unsere Bürger zu evakuieren«, sagte Wereschtschuk.
Bei einem neuen Gefangenenaustausch mit Russland sind nach Angaben Kiews 26 Ukrainer freigekommen. »Zwölf unserer Soldaten, darunter eine Offizierin, kehren nach Hause zurück«, erklärte die ukrainische Vize-Regierungschefin Iryna Wereschtschuk am Samstag im Messengerdienst Telegram. Zudem seien 14 ukrainische Zivilisten freigekommen, unter ihnen neun Frauen.
Die russische Menschenrechtsbeauftragte Tatjana Moskalkowa teilte mit, es seien 14 russische Seeleute freigelassen worden. Die Besatzung des zivilen Schiffes »Asow Concord« sei seit Beginn des Krieges am 24. Februar »im Hafen von Mariupol festgehalten worden, wo die Ausfahrt zum Meer vermint war«, erklärte Moskalkowa.
Seit dem Beginn der russischen Invasion haben die Ukraine und Russland bereits mehrfach gefangengenommene Soldaten und Zivilisten ausgetauscht. Am 1. April wurden nach Angaben Kiews 86 ukrainische Soldaten bei einem Gefangenenaustausch befreit.
Internationale Reaktionen
Wegen künftiger russischer Aggressionen arbeitet die Nato nach Angaben ihres Generalsekretärs Jens Stoltenberg an Plänen für eine ständige Militärpräsenz an ihren Grenzen. »Was wir jetzt sehen, ist eine neue Realität, eine neue Normalität für die europäische Sicherheit«, sagt Stoltenberg der Zeitung »The Telegraph«. Die Nato befände sich in einer grundlegenden Umgestaltung. Diese spiegele die langfristigen Folgen der Handlungen des russischen Präsidenten Putin wider.
Nach dem russischen Abzug aus dem Norden der Ukraine gibt es nach Erkenntnissen des britischen Geheimdienstes Beweise dafür, dass nicht am Kampfgeschehen beteiligte Menschen auf unverhältnismäßige Weise zur Zielscheibe geworden sind. Es gebe Massengräber, Geiseln seien als menschliche Schutzschilde gebraucht und zivile Infrastruktur vermint worden, teilte das britische Verteidigungsministerium in der Nacht zum Sonntag bei Twitter mit.
Die russischen Streitkräfte nutzten demnach weiterhin Unkonventionelle Spreng- und Brandvorrichtungen (USBV), um der Ukraine Verluste zuzufügen, die Moral zu senken und die Bewegungsfreiheit der Ukrainer einzuschränken. Zudem griffen die Truppen weiterhin Infrastrukturziele an, bei denen das Risiko hoch sei, auch der Zivilbevölkerung zu schaden – so etwa bei dem jüngsten Beschuss eines Lagers mit Salpetersäure bei Rubischne im Donbass.
Italiens Ex-Ministerpräsident Silvio Berlusconi ist nach eigenen Worten »zutiefst enttäuscht« vom russischen Präsidenten Putin, den er jahrelang als guten Freund bezeichnet hatte. »Ich kann und will nicht verhehlen, dass ich zutiefst enttäuscht und traurig bin über das Verhalten von Wladimir Putin«, sagte Berlusconi am Samstag bei einer Veranstaltung seiner Partei Forza Italia in Rom.
»Ich kenne ihn seit etwa 20 Jahren und er erschien mir immer als Demokrat und Mann des Friedens«, sagte Berlusconi über den russischen Präsidenten. Angesichts der »Massaker an Zivilisten in Butscha und anderen ukrainischen Orten, die echte Kriegsverbrechen sind, kann Russland seine Verantwortung nicht leugnen«, fügte der 85-jährige Milliardär hinzu.
Wirtschaftliche Konsequenzen
Wegen des russischen Angriffskriegs hat die Ukraine ein komplettes Handelsembargo gegen Russland verhängt. »Das ist die juristische Verankerung der faktischen Einstellung der Handelsbeziehungen mit der Russischen Föderation vom 24. Februar«, sagte Wirtschaftsministerin Julia Swyrydenko gemäß dem Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk am Samstag. Die Regierung schätzt die Verluste Moskaus aus dem Boykott auf umgerechnet rund 5,5 Milliarden Euro. Ein Teilimportstopp für russische Waren gilt bereits seit 2015. Kiew transportiert aber weiter täglich mehr als 100 Millionen Kubikmeter russischen Erdgases nach Westen.
Die Ukraine will einem Zeitungsbericht zufolge direkt beim Düsseldorfer Rüstungskonzern Rheinmetall deutsche Marder-Schützenpanzer kaufen. Wie die »Bild am Sonntag« berichtete, plant der Konzern, bis Jahresende 35 Panzer an die Ukraine auszuliefern. Die ausgemusterten Panzer müssen demnach jedoch zunächst instand gesetzt werden.
Rheinmetall hatte ursprünglich vorgeschlagen, dass die Bundeswehr sofort einsatzfähige Marder an die Ukraine liefert, und danach von Rheinmetall die reparierten Panzer bekommt. Dies lehnte das Bundesverteidigungsministerium aber ab, da die Bundeswehr-Marder sowohl an der Nato-Ostflanke als auch für Übung und Ausbildung im Einsatz seien. Zudem bezweifelt das Ministerium, dass die ausrangierten Rheinmetall-Marder schnell wieder fit gemacht werden können.
Wie die »Bild am Sonntag« berichtete, hat sich das Verteidigungsministerium die Panzer jedoch nicht einmal angesehen, um den Zustand und den Inspektions- und Wartungsbedarf einschätzen zu können.