Saturday, April 9, 2022
Für immer Russlandversteher: Viele Deutsche nehmen Ukraine weiterhin nicht ernst
Für immer Russlandversteher: Viele Deutsche nehmen Ukraine weiterhin nicht ernst
Berliner Zeitung
Klaus Bachmann - Vor 19 Std.
Wenn etwas spektakulär schiefgeht, müssen Sündenböcke her. Manchmal sind das Unschuldige, die zur falschen Zeit am falschen Ort waren, manchmal sind es auch solche, die tatsächlich etwas zur Katastrophe beigetragen haben, ob wissentlich, willentlich oder nicht. Das spielt keine so große Rolle, denn es geht in erster Linie darum, denen, die mit den Fingern auf sie zeigen, Genugtuung zu verschaffen.
Frank-Walter Steinmeier hat das getan, indem er öffentlich Fehler in seiner Haltung zu Russland zugegeben hat, Gerhard Schröder und Angela Merkel verweigern sich dem Ritual und stehen entsprechend am Pranger. Doch wofür eigentlich? Dass sie Putins in letzter Minute in extrem engem Kreis gefasste Entscheidung zu einer großangelegten Invasion der Ukraine nicht vorausgesehen haben, kann man ihnen kaum zum Vorwurf machen. Dass sie mit Rohstoffimporten aus Russland eine Diktatur und ihre Militärmaschinerie mitfinanziert haben? Das haben andere auch, sogar Regierungen, die Deutschland dafür öffentlich kritisiert haben. Nein, es geht hier nicht um das Versagen von Einzelnen. Es geht um etwas viel Größeres: um Systemversagen, Politikversagen oder schlimmer: die erfolgreiche Pflege der Berliner Landschaft, die jahrzehntelang fast niemanden gestört hat.
In den letzten dreißig Jahren ist im wiedervereinigten Deutschland ein Biotop aus Parteipolitik, Wirtschaftsinteressen, Außenpolitik und Lobbyismus entstanden, in dem sich eine rosarote Sicht auf Russland und seine politischen Eliten verbreiten konnte, die blind gemacht hat für die nackten Tatsachen: dass Russland eine nach innen und außen aggressive Diktatur geworden ist, die ihre Gegner vergiftet und ihre Nachbarn überfällt.
Dieses Biotop konnte entstehen, weil jede Regierung der letzten Jahrzehnte die Interessen einiger weniger im Russland-Geschäft verwurzelter deutscher Konzerne mit der Staatsräson verwechselte. In Wahrheit ist Russland für die deutsche Wirtschaft als Ganzes nahezu bedeutungslos. Deutschland handelt doppelt so viel mit den Niederlanden wie mit Russland und investiert an der Weichsel mehr als an der Wolga. Würden wirtschaftliche Rücksichten die deutsche Außenpolitik bestimmen, müsste sie pro-amerikanisch, pro-französisch und pro-chinesisch sein, denn in diese Staaten exportiert die deutsche Wirtschaft am meisten.
Dass sie pro-russisch war, liegt daran, dass Heerscharen von Lobbyisten damit beschäftigt waren, jedem Bundeskanzler einzuflüstern, dass der Import billiger Rohstoffe aus Russland nicht nur in ihrem Interesse, sondern in dem des ganzen Landes sei. Die Frösche in diesem Lobby-Biotop sind jetzt auf Tauchstation gegangen, aber sie quaken immer noch. Fast täglich kann man im öffentlichen Fernsehen einen Vertreter dieser Lobby dabei beobachten, wie er unwidersprochen Katastrophenszenarien für den Fall an die Wand malt, dass Gaslieferungen aus Russland von einem Tag auf den anderen abgestellt werden.
Der Vertreter eines Mineralölkonzerns, der bei einer Erhöhung der Treibstoffpreise vor zusammenbrechenden Lieferketten, Massenarbeitslosigkeit und dem Kollaps ganzer Branchen warnt, würde in Sekundenschnelle von jedem Moderator entlarvt werden. Nur bei Lobbyisten, die Rohstoffimporte aus Russland verteidigen, versagen weiterhin alle gewohnten Kontrollmechanismen einer pluralistischen Medienlandschaft. Hier liegt der Hund begraben, nicht bei Merkel, Steinmeier und Schröder. Denn sie alle konnten sich nur deshalb so frei und unbekümmert in diesem Biotop bewegen, weil es dafür eine gesellschaftliche Akzeptanz gab.
Die Brücken nach Russland, die Frank Walter Steinmeier nach seinem Eingeständnis gebaut, und die Putin nun so spektakulär eingerissen hat, die wurden ja nicht heimlich errichtet, sie waren weder illegal, noch wurden sie als unanständig empfunden. Das ist so, weil Russland im deutschen Weltbild einen sehr eigenartigen Platz einnimmt. Ganz im Gegensatz zur Ukraine.
Es ist der Frühling 2014. Berlin. Auf der Halbinsel Krim besetzen Soldaten unbekannter Herkunft und ohne Abzeichen auf den Uniformen das Parlamentsgebäude. Referendum, Antrag auf Aufnahme in die Russische Föderation. In Lugansk und Donezk greifen Bewaffnete ukrainische Polizeiposten an, Busse mit russischen Zulassungen befördern „Touristen“ aus Russland in die ukrainischen Regionen, um dort gegen den Regierungswechsel in Kiew zu protestieren. Der ist nach russischer Lesart ein faschistischer Putsch. In Moskau feiern die Massen die „Heimkehr“ der Krim zu Russland.
In den Talkshows des öffentlich-rechtlichen Fernsehens in Deutschland herrscht vollkommene Ausgewogenheit: Es gibt Diskutanten, die die russische Sichtweise vertreten und solche, die das nicht tun. Mit letzteren gibt es aber ein Problem: In Deutschland gibt es Russlandversteher, die etwas von Russland verstehen, und solche, die zu Russland nur eine Meinung haben. Ukraineversteher gibt es gar nicht. Die forschen an den Universitäten, aber die Journalisten kennen sie nicht und laden sie nicht ein.
Russlandversteher sind seit Jahren in den Medien präsent, manche treten sogar dann noch als unabhängige Experten auf, als sie bereits bei Gazprom unter Vertrag sind. Dann vertreten sie das Recht Russlands auf eine eigene Einflusszone und die Wahrung seiner Sicherheitsinteressen, oder verkünden, die Krim sei ja eigentlich schon immer russisch gewesen. Sie rufen zur Mäßigung auf, nicht weil sie Angst vor Russland oder vor Krieg haben, sondern weil sie einfach bei Putin keine Radikalisierung sehen. Geht es um Sanktionen, verweisen sie auf Deutschlands moralische und historische Verpflichtungen gegenüber Russland aufgrund der „Ungeheuerlichkeit der Verbrechen“, die die Nazis dort begangen haben. Es ist eine Mischung aus geopolitischen und moralischen Argumenten, die völlig von der inneren Lage in Russland abstrahiert und Russland gleichsetzt mit der UdSSR. In diesem kruden Weltbild ist Russland eine Demokratie und gleichzeitig die Fortsetzung der UdSSR mit anderen Mitteln.
Für die Ukraine ist in diesem Weltbild kein Platz. Der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt zweifelt sogar in einer Talkshow, ob die Ukraine überhaupt ein richtiger Staat sei. Auf jeden Fall ist sie nicht das Opfer eines Angriffskriegs, sondern sie ist eine von zwei Konfliktparteien und ein Land, das „tief zerrissen ist in einen pro-russischen Osten und einen pro-europäischen Westen.“ Das ist ein Klischee der russischen Propaganda: pro-russischer Separatismus im Donbass und auf der Krim erscheint da als genauso legitim und natürlich wie katalonischer Separatismus in Spanien oder das Streben der Flamen nach Unabhängigkeit von Belgien.
Das Problem ist nur, dass dieser prorussische Separatismus, der mit Maschinengewehren im Anschlag Polizeistationen stürmt, von Russland erst geschaffen wurde. Im Lichte unabhängiger Umfragen aus der Ukraine von vor 2014 war politischer Separatismus zwar im Donbass etwas stärker als in den Nachbarregionen, aber er war eine Minderheitsströmung und vor allem: er war friedlich. Es war die Nostalgie ostukrainischer Rentner nach der untergegangenen Sowjetunion, die wie die Talkshow-Gäste in Berlin Russland in einen Topf mit der untergegangenen UdSSR werfen.
Manche im Donbass nehmen die russischen Pässe an, die die russische Regierung verteilen lässt. Aber Rentner überfallen keine Polizeiwachen. Jüngere Bewohner des Donbass denken nicht daran, russische Staatsbürger zu werden, sonst droht ihnen bei der nächsten Reise nach Russland der Einzug in die Armee. Und im Gegensatz zur ukrainischen Armee führt die russische Krieg: in Tschetschenien, später in Syrien.
Gerade weil es dort keine politische Unterstützung für ein Loslösen von Kiew gab, muss der Kreml bewaffnete Aufständische in die Separatistenrepubliken schicken. Viele Mitglieder der neuen Machteliten im Donbass sind Abenteurer, Söldner, Geheimdienstler und gewöhnliche Banditen. Ihre Macht beruht auf Terror und auf der Flucht der jüngeren Bevölkerung ins Zentrum und den Westen der Ukraine. Bei Kriegsausbruch 2022 beherbergte die Ukraine nach UNHCR-Angaben 1,5 Millionen Binnenflüchtlinge aus dem Donbass und der Krim. Nach Russland waren gerade einmal 50.000 geflohen.
Der Aussicht auf die „Befreiung vom ukrainischen Joch“ haben dreißigmal so viele Bewohner der Separatistenrepubliken die Flucht in den angeblichen Faschismus vorgezogen. Selbst auf der Krim, wo Separatismus in den 90er-Jahren einen authentischen Nährboden hatte, beteiligen sich an dem Referendum zum Beitritt zur Russischen Föderation nur 30 Prozent der Wahlberechtigten, von denen die Hälfte für den Anschluss an Russland stimmt. Man weiß das durch eine Ungeschicklichkeit von Putins Menschenrechtskomitee, das diese Daten kurzzeitig auf seiner Webseite hatte.
In Deutschland ersetzt das Klischee von der „tief gespaltenen Ukraine“ echte Kenntnisse über das Land. Deutsche Diplomaten ziehen los, sponsern und organisieren im Osten der Ukraine „Versöhnungskonferenzen“, bei denen sich lokale Behörden- und NGO-Vertreter mit der Zentralregierung in Kiew „versöhnen“ sollen. Die Konferenzen enden mit einem Fiasko, als deutlich wird, dass diese Menschen überhaupt nicht zerstritten sind.
Hinter diesem absurden Export deutscher Soft Power verbirgt sich ein ernstes Problem: In Deutschland weiß jeder etwas über Russland und hat eine Meinung über Russland. Dieses Wissen ist oft ein wildes Durcheinander von Doku-Soaps, Romanen, Versatzstücken aus Filmen, Reiseführern, historischem Kitsch, durchtränkt mit Respekt vor dem „ewigen Russland“ und Furcht vor der Sowjetmacht, mit der Putins Russland gleichgesetzt wird. Es ist Kitsch, es ist Halbwissen, aber man kann darauf aufbauen.
Russlandversteher wissen, wie man es aktiviert, die russische Propaganda kann daran anknüpfen, selbst Journalisten, die der russischen Politik gegenüber kritisch eingestellt sind, bedienen sich dieser Versatzstücke. Im öffentlich-rechtlichen Fernsehen erfährt man in den Hauptnachrichten von der Verfolgung von Dissidenten, der Vergiftung von Skripal und Navalny, der Ermordung Niemtsovs und der Flucht seiner Tochter, und anschließend kann man auf einem Themenkanal eine Wolga-Reise machen, während ein entzückter Moderator von der Tiefe der russischen Seele schwadroniert und die Rückständigkeit der russischen Provinz mit der Naturverbundenheit und Ursprünglichkeit ihrer Bewohner erklärt.
Jeder weiß etwas über Russland, über die Ukraine weiß kein Mensch etwas. Nicht einmal Kitsch. Keine Dniepr- oder Dnister-Fahrten, in denen die Weite der ukrainischen Steppen angepriesen wird, die Seele ukrainischer Bauern ist nicht „tief“ und ihr Staat mag älter sein als der russische, aber er gebietet keinen Respekt und ewig ist er in deutschen Augen schon gar nicht.
Wenn irgendwo in der deutschen Provinz ein Kosakenchor auftritt, ist er natürlich russisch und vom Don. Von ukrainischen Kosaken, von der Sitsch, von der Kiewer Rus hat man in Deutschland noch nichts gehört. Dostojewski, Tolstoi und Puschkin kennt jeder, ihre Bücher kann man in Übersetzung in jeder Stadtbücherei entleihen. Schewtschenko gibt es da nicht, den hält man im Zweifelsfall ohnehin für einen Russen. Auf der mentalen Landkarte der Deutschen ist Russland riesig. Die Ukraine ist ein weißer Fleck.
Ein großer Teil der Sozialdemokraten und praktisch die gesamte Partei Die Linke haben ihre frühere Bewunderung für die UdSSR, das Lager des Fortschritts und der sozialen Gerechtigkeit auf das Russland von Jelzin, Putin und Medwedew übertragen und dabei die scharfe Kritik sozialdemokratischer, sozialistischer und kommunistischer Intellektueller in der Weimarer Republik gegenüber der bolschewistischen Revolution verdrängt.
Die Linke feiert jedes Jahr den Jahrestag der Ermordung Rosa Luxemburgs durch rechtsextreme Freikorpsangehörige, vergisst aber gerne, dass dieselbe Rosa Luxemburg vor ihrem Tod die politische Verfolgung Andersdenkender durch die Bolschewiki angeprangert hat. Der Linken ist es bis heute nicht in den Sinn gekommen, Putins Krieg gegen die Ukraine als den Versuch einer engstirnigen, patriarchalischen Männerclique zu sehen, die dabei ist, dem weltoffenen Teil der ukrainischen und russischen Jugend die Zukunft zu verbauen.
Die in letzter Zeit bei der Linken so beliebte Gender-Analyse hat da vollkommen versagt: Im politischen System der Ukraine, von der Regierung über die Medien bis zum Militär, spielen junge Frauen eine weitaus größere Rolle als in Russland, die russische Regierung hat in den letzten Jahren Feministinnen und LGBT-Personen verfolgt, Chauvinismus gefördert und patriarchalische Parteien und rechtsextreme Bewegungen im Ausland unterstützt – aber Die Linke hat sich davon nicht beirren lassen. Viele Linke sehen in der Ukraine keine Graswurzelbewegungen, keinen Pluralismus in Medien und Kultur, keinen Parteienwettstreit, sondern nur das „Asowsche Regiment“.
Die Bewunderung Russlands als Nachfolger des russischen Imperiums durch deutsche Konservative ist ähnlich selektiv: Als die Deutschen nach Bismarcks Rücktritt als Reichskanzler aufhörten, Russland als Partner zu sehen, der ein Machtgleichgewicht in Europa garantierte, begann eine neue Strömung, mit der prorussischen konservativen Tradition zu konkurrieren, die Russland als einen Riesen auf tönernen Füßen sah, der jederzeit unter dem Druck nationaler Konflikte zusammenbrechen konnte. Diese Strömung ist später dafür verantwortlich, dass sowohl das Zweite als auch das Dritte Reich versuchten, den Irredentismus in Russland zu unterstützen und bestimmte Nationalitäten gegen Russland aufzuhetzen. In diesen Momenten begann die deutsche Politik, die Ukraine nicht als selbständigen Akteur, sondern als Instrument zur Zerschlagung Russlands zu sehen.
Es ging um den Getreidespeicher Ukraine, und es ging darum, eine Pufferzone zu Russland zu schaffen. Daher ist diese pro-ukrainische Strömung in der deutschen Politik nach der Aufarbeitung des Dritten Reiches völlig diskreditiert und die ukrainische Nationalbewegung erscheint darin nur noch im Kontext der Kollaboration mit dem Nationalsozialismus und der Mitschuld am Holocaust.
Dieses Thema tauchte sogar nach 2014 in pro-russischen Publikationen deutscher Autoren auf: Im russisch-ukrainischen Konflikt muss Russland Recht haben, denn zwei Generationen zuvor haben die Nazis die Ukrainer gegen Russland unterstützt. Das klingt etwas grotesk, bezieht sich aber auf eine andere, viel populärere Auffassung, wonach Deutschland Putins Russland dankbar sein muss, weil Nazi-Deutschland einst die UdSSR angegriffen, die UdSSR Deutschland von den Nazis befreit hat, und später der deutschen Wiedervereinigung „zustimmte“.
Dieser Aspekt zieht sich durch die Äußerungen und Reden von konservativen und sozialdemokratischen Politikern, als ob die Ukraine nichts mit dieser UdSSR zu tun hätte, die von Hitler-Deutschland angegriffen wurde, die Deutschland von Hitler befreit und die Wiedervereinigung ermöglicht hat. Diese Mainstream-Illusionen vom Partner Russland, mit dem man im Dialog bleiben muss, auch wenn er Nachbarländer überfällt, haben eine größere Tragweite als die Illusionen am linken Rand. Denn anders als SPD, CDU und FDP hatte Die Linke nie die Möglichkeit, ihre politischen Lebenslügen in operative Außenpolitik zu verwandeln.
Es gibt ein Element, das alle deutschen Parteien eint, so sehr, dass sogar die AfD darauf verzichtet, ihrem Lieblingsfeindbild Angela Merkel in dieser Hinsicht zu widersprechen: die Überzeugung, oder vielmehr die gebetsmühlenartige Wiederholung der Floskel, für den „Ukraine-Konflikt“ gebe es nur eine diplomatische, keinesfalls aber eine militärische Lösung. Was klingt wie ein tiefempfundenes Bekenntnis zu einer friedliebenden Außenpolitik, ist in Wirklichkeit eine leere Floskel. Denn während Russland die Krim annektiert und deutsche Diplomaten vergeblich die Ostukraine mit sich selbst versöhnen, schickt die Regierung Merkel Waffen aus Bundeswehrbeständen und Bundeswehroffiziere als Ausbilder in die Kurdengebiete des Irak, um dort einen Völkermord des Islamischen Staates an den Jesiden zu verhindern.
Auch in Afghanistan hält man zwanzig Jahre lang eine militärische Lösung für möglich. Niemand hat gefordert, im libyschen Bürgerkrieg mit Muammar al-Gaddafi „im Gespräch zu bleiben“ und 1999 hat die Bundeswehr in Jugoslawien der Diplomatie auch keine Chance mehr gegeben. Mit Dschihadisten und Terroristen in Mali, mit den Taliban in Afghanistan wird nicht verhandelt. Der Krieg, der 2014 zwischen der Ukraine und Russland ausbricht, war auch damals schon ein Angriffskrieg. Er wird zum bilateralen Konflikt umbenannt, damit Deutschland vermitteln kann.
Das alles ist bekannt. Man kann es nachlesen, man kann es recherchieren. Jeder, der es wissen wollte, konnte es wissen. Niemand kann sagen, das sei eine Politik, die hinter verschlossenen Türen, unter Ausschluss der Öffentlichkeit, gemacht wurde oder der deutschen Öffentlichkeit von einer abgehobenen Elite aufgezwungen wurde.
Damit können sich von ihrer Polizei und ihren Geheimdiensten terrorisierte Russen herausreden. In Deutschland funktioniert das nicht. Nach Umfragen aus dem Jahr 2014 hielt die Hälfte der Befragten die damaligen Medienberichte über Russlands Angriff auf die Ukraine für voreingenommen und verfälscht. Zeitweise hatten die Deutschen mehr Vertrauen in Russland als in die USA.
Wir können getrost davon ausgehen, dass die Bundesregierung davon wusste, Angela Merkel ließ im Durchschnitt dreimal wöchentlich Meinungsumfragen durchführen. Ihre Schaukelpolitik von damals, der Versuch, gleichzeitig Russland zu sanktionieren und den ehrlichen Makler zwischen Kiew und Moskau zu spielen, entsprach ziemlich genau dem, was Otto Normalverbraucher auch tat: Gute Miene zum bösen Spiel zu machen, um keine unbequemen Konsequenzen ziehen zu müssen.
Damals war die Ukraine aus deutscher Sicht weit weg, ein fremdes Land irgendwo östlich von Polen und westlich von Kasachstan, instabil, korrupt, das sich auf einen aussichtslosen Streit mit einer Atommacht eingelassen hatte. Erst jetzt ist diese Sichtweise auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet.
Als im Februar die russischen Truppen in breiter Front in die Ukraine einmarschierten, wurde das im deutschen Fernsehen sofort zum „russischen Angriffskrieg“. Auch Ukrainer kommen jetzt vor die Kamera, Präsident Wolodimir Selenskij, sein Botschafter in Berlin, Andrij Melnyk, und natürlich die Flüchtlinge. Während Ukrainer im polnischen, litauischen oder amerikanischen Fernsehen vor allem als heldenhafte Kämpfer gegen russische Invasoren vorkommen, zeigen die Kameras der großen deutschen Fernsehanstalten vor allem ausgebombte Zivilisten, weinende Frauen in Berlin und verzweifelte Flüchtlinge an der polnischen und moldauischen Grenze.
Mit atemberaubender Geschwindigkeit hat sich der jahrzehntelange Russland-Kitsch in einen paternalistischen Ukraine-Kitsch verwandelt. Immerhin, es gibt auch Positives zu vermelden. Der Krieg, den Russland seit 2014 gegen die Ukraine führte, fand immer im Osten statt. Meist war das der Osten der Ukraine, also gewissermaßen der Osten des Ostens. Den Krieg, der am 24. Februar ausbrach, benannten die Moderatoren der wichtigsten TV-Nachrichtensender fast umgehend zum „Krieg in der Mitte Europas“ um. So ist die Ukraine dann doch noch irgendwo in Europa angekommen, in dem gemeinsamen europäischen Haus, das Putin gerade in Trümmer legt.