Sunday, April 10, 2022
Flucht aus der Ukraine nach Lissabon: „Mami, wach auf, Russland bombardiert uns“
Berliner Zeitung
Flucht aus der Ukraine nach Lissabon: „Mami, wach auf, Russland bombardiert uns“
Thaisa Semenova - Gestern um 17:09
Okay, ich weiß, ich bin ein Zoomer, also eine Mischung aus „Boomer“ und „Generation Z“. Ich habe vor allem First-World-Probleme, so wie neulich, als meinem Lieblingscafé im Kiewer Hipster-Viertel Podil die Mandelmilch ausging oder das WLAN zu Hause nicht schnell genug funktionierte. Niemals hätte ich gedacht, dass ich plötzlich in Portugal aufwache, getrennt von meiner Familie und ohne zu wissen, wie es weitergehen soll. Wie viele andere war ich naiv davon überzeugt, dass im Jahr 2022 im Herzen Europas kein Krieg möglich sei. Doch als am 24. Februar um 6 Uhr morgens russische Raketen auf die Ukraine niederprasselten, musste ich auf die harte Tour lernen, wie sich das Leben meiner Urgroßmutter angefühlt hatte.
Ich war in meiner Wohnung im Zentrum von Kiew, als ich die erste Sirene heulen hörte. Während ich mich anzog, um in den Luftschutzbunker zu gehen, schnappte ich mir schnell mein Telefon, um anzurufen und die Worte zu sagen, von denen ich nie gedacht hätte, dass ich sie sagen müsste: „Mami, wach auf! Russland bombardiert uns.“
Ich googelte die nahe gelegenen Bunker und ging los, um sie zu überprüfen. Aber als ich beim ersten ankam, stellte ich fest, dass sie geschlossen waren: Der eine in meinem Gebäude war in einen Schönheitssalon umgewandelt worden, und der in der Schule auf der anderen Straßenseite war für Nichtstudenten oder Schulangestellte geschlossen. Meine Nachbarn schrieben in unserem Telegram-Chat, dass sie am nächsten Tag das Türschloss am Bunker mit einer Axt eingeschlagen hätten.
Als ich merkte, dass ich den Bunker nicht betreten konnte, fuhr ich zum Haus meiner Eltern außerhalb von Kiew. Den Namen des Dorfes schreibe ich lieber nicht, um sie zu schützen. Sie sind immer noch dort, aber es ist nicht weit von Butscha entfernt, das ja inzwischen jeder kennt. Dort starben viele Zivilisten, die es nicht geschafft hatten, ihre Familien zu erreichen und stattdessen von russischen Soldaten auf offener Straße niedergeschossen wurden.
Nach ungefähr fünf Stunden im Stau kam ich bei meinen Eltern an. Dort hörte ich die Raketen, die mehrere Kilometer entfernt abgefeuert wurden. Ehrlich gesagt hatte ich überhaupt keine Angst. Das liegt wahrscheinlich daran, dass der Abwehrmechanismus des Körpers bei akutem Stress Emotionen abschaltet. Ich erinnere mich, dass mein erster Gedanke war: „Die Rakete klingt seltsam ähnlich wie der Staubsauger, wenn er eingeschaltet wird. Nur 100-mal lauter.“
Mein Stiefvater, ein erfahrener Militäroffizier, der derzeit als Bataillonskommandeur in den Territorialen Verteidigungskräften der Ukraine dient, sagte mir, ich solle sofort ein Ticket nach Lviv kaufen. Im Westen der Ukraine sei es relativ ruhiger. Er sagte, dass ich als ukrainische Journalistin ein massives Ziel für russische Invasoren werden würde, und da ich keine Erfahrung mit der Berichterstattung über den Krieg vor Ort habe, würde ich dem Militär nur zur Last fallen.
Laut dem Kiewer Institut für Massenmedien hat Russland bis zum 24. März 148 Verbrechen gegen Journalisten in der Ukraine begangen. Jetzt, über einen Monat nach Beginn der Invasion, wurden mindestens zwölf Journalisten getötet und zehn verletzt. Dem Bericht des IMM zufolge wurden mindestens sechs Journalisten von russischen Streitkräften als Geiseln genommen und misshandelt.
Am Abend des ersten Kriegstages waren alle Fahrkarten von Kiew nach Lviv ausverkauft, also beschloss ich, zum Bahnhof zu kommen und dort auf den Evakuierungszug zu warten. Ich umarmte meine Mutter zum Abschied, und sie erzählte mir von meiner Urgroßmutter Shura, die im Zweiten Weltkrieg im Widerstand gewesen war. „Als Journalistin wirst du jetzt die Stimme des ukrainischen Widerstands.“ Sie sagte, unsere Geschichte bewege sich in einer Spirale.
Am 25. Februar gegen 3 Uhr morgens hörte ich: „Alle, die nach Lviv wollen, gehen zur Plattform 5.“ In friedlichen Zeiten dauerte der Weg von Kiew nach Lviv etwa sechs Stunden. Ich stand 15 Stunden im Gang des Waggons. Der Zug war so voll, dass es nur Sitzplätze für Kinder gab. Im Zug erlaubte ich mir endlich zu weinen. Bis dahin dachte ich, ich hätte kein Recht dazu, da ich viele Entscheidungen treffen musste. Ich brauchte meinen kühlen Kopf.
Nachdem ich in Lviv angekommen war, hörte ich eine Luftschutzsirene und lief direkt in den Bunker am Bahnhof. Ohne mich um eine Übernachtung zu kümmern, ging ich später direkt zum Busbahnhof, um Tickets für Polen zu kaufen. Das Ticket bekam ich letztlich durch einen Zufall: Ein Mann, der in der Menge stand, begriff, dass er das Land nicht verlassen durfte, nachdem das allgemeine Mobilisierungsgesetz eingeführt worden war. Er gab mir sein Ticket. Am Abend dieses Tages stieg ich in einen Bus nach Krakau, und kurz darauf schlief ich zum ersten Mal seit zwei Tagen ein.
Ich wachte auf, als der Bus bereits an der polnischen Grenze im Stau stand, am Ende des Tages traf ich endlich meine Freunde in Krakau. Während meiner drei Wochen dort wechselte ich viermal die Wohnung, weil meine Gastgeber sich um ihre Verwandten kümmern mussten.
Seit Mitte März bin ich in Portugal. Vielleicht habe ich dieses Land ausgewählt, weil es am weitesten von Russland entfernt ist, aber noch auf dem Kontinent. So hat meine Schwester jedenfalls mit mir gescherzt. Außerdem ist die Miete hier günstig, das Wetter warm. Meine Schwester ist in der Zentralukraine geblieben, bei ihrem Freund.
Wieder fühle ich mich privilegiert, dieses Mal, weil ich meine Heimatstadt verlassen durfte. Die Menschen der zu Asche gebombten Stadt Mariupol im Süden würden wohl alles dafür eintauschen, an meiner Stelle zu sein. Meine Familie ist über die ganze Ukraine verstreut und noch ist unklar, wann wir uns wiedersehen werden, oder ob überhaupt. Bis dahin tue ich, was ich am besten kann: Geschichten schreiben, Menschen auf der ganzen Welt die Wahrheit über die russischen Gräueltaten erzählen.
Ich weiß nicht, wo die nächste „hochpräzise“ russische Rakete als nächstes einschlagen wird: in ein Waisenhaus, ein Krankenhaus oder das Haus meiner Familie? Was ich weiß, ist, dass dieses blutige Gemetzel höchstwahrscheinlich noch lange andauern wird und meine Leute, die Ukrainer, lernen, darin zu leben.
In den 44 Tagen seit der Invasion vom 24. Februar war ich fast die ganze Zeit am Boden zerstört und wütend. Was mich am Leben hält, ist das Verständnis, dass die Ukrainer für unsere Existenz, unsere Freiheit kämpfen und die ganze demokratische Welt sich auf unsere Seite gestellt hat. Ich möchte mir nicht vorstellen, wie viele Menschenleben die Invasion kosten wird. Aber ich bin zuversichtlich, dass Russland diesen Krieg zwischen Demokratie und Tyrannei auf keinen Fall gewinnen kann.
Wieder einmal in der ukrainischen Geschichte verweigert Russland den Ukrainern das Existenzrecht als Nation. Und wieder einmal werden wir uns verteidigen. Ich hoffe nur, dass dieses Mal das letzte Mal sein wird.