Saturday, April 9, 2022

Finnland vor historischem Kurswechsel? Die Zeichen für ein bevorstehendes Nato-Beitritts-Gesuch verdichten sich

Neue Zürcher Zeitung Deutschland Finnland vor historischem Kurswechsel? Die Zeichen für ein bevorstehendes Nato-Beitritts-Gesuch verdichten sich Rudolf Hermann - Vor 17 Std. Noch im Januar hatte in Helsinki die sozialdemokratische Regierungschefin Sanna Marin erklärt, es sei nicht anzunehmen, dass Finnland während der laufenden Legislaturperiode (die im Frühling 2023 endet) eine Mitgliedschaft in der Nato anstreben könnte. Doch dann kam der russische Überfall auf die Ukraine, die wie Finnland keinem Militärbündnis angehört. Dass die Nato Kiew zwar gewisse Hilfe leistet, aber vor einem direkten Eingreifen zurückschreckt, ist in Finnland niemandem entgangen. Und alle wissen, dass man wie die Ukraine ein direkter Nachbar Russlands ist, mit einer rund 1300 Kilometer langen, schwierig zu verteidigenden Grenze. Antrag schon im Mai? Nur Wochen sind seither vergangen, doch klingt die Rhetorik heute aus dem Mund von Finnlands höchsten Politikern ganz anders. Das Fenster zu einem Nato-Beitritt sei jetzt offen, sagte Ministerpräsidentin Marin vor einigen Tagen in einer politischen Grundsatzrede. Finnland müsse sich diesen Frühling entscheiden, ob es einen Beitritt beantragen wolle. Wie auch der Entscheid ausfalle – er werde auf die eine oder andere Weise Konsequenzen haben. Was ihre eigene Position in der Sache ist, liess Marin dabei offen, um den Prozess der Meinungsbildung nicht zu beeinflussen. Jedoch sagte sie, Russland habe sich nicht als der Nachbar erwiesen, für den man es lange gehalten habe. Moskaus militärische Aggression gegen die Ukraine zwinge Finnland dazu, seine Sicherheitspolitik neu zu formulieren. In der Öffentlichkeit hat dieser Meinungsumschwung auf spektakuläre Art und Weise bereits stattgefunden. Bis und mit Januar 2022 hatte ein Nato-Beitritt in Umfragen nie mehr als 30 Prozent Ja-Stimmen erhalten. Eine Erhebung, die im Februar genau zu jenem Zeitpunkt erfolgte, als Russland die Invasion startete, ergab dann aber schon gut 50 Prozent Befürworter; Ende März waren es dann mehr als 60 Prozent. Das seien Zahlen, die den Stand der Volksmeinung klar reflektierten, sagte der finnische Präsident Sauli Niinistö. Eine konsultative Volksabstimmung zur Frage eines Nato-Beitritts-Gesuchs erachte er damit nicht mehr als nötig. Mehr und mehr trauen sich auch Parlamentarier aus der Deckung, und das Bild, das sich dabei ergibt, deutet ebenfalls darauf hin, dass Finnland eher ein Beitrittsgesuch stellen wird als nicht. Die Regierung dürfte dem Parlament noch vor Ostern ein an die neue Situation angepasstes Strategiepapier zur Sicherheitspolitik unterbreiten, über das nach den Feiertagen diskutiert werden soll. Die Zeitung «Iltalehti» will dazu unter Berufung auf nicht näher genannte Quellen erfahren haben, dass dieses Papier den Vorschlag eines Nato-Beitritts-Gesuchs enthalte. Aussenminister Pekka Haavisto, der am Donnerstag einer Tagung mit Amtskollegen aus Nato-Staaten beigewohnt hatte, erklärte laut einem Bericht der Sendeanstalt Yle, der Zeitrahmen für die allfällige Einreichung eines Beitrittsgesuchs werde sich demnächst konkretisieren. Beobachter spekulieren, dass es um die ersten zwei Wochen im Mai geht. Das wäre eine atemberaubende Geschwindigkeit in einer Sache, für die sich Finnland noch Anfang März sehr viel mehr Zeit reservieren wollte. Acht Jahrzehnte Neutralität Einiges deutet damit darauf hin, dass Finnland in seiner Sicherheitspolitik auf einen wahrhaft historischen Kurswechsel hinsteuert. Denn seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist das erst 1918 selbständig gewordene Land sicherheitspolitisch bündnisfrei. Zuerst war dies eine Auflage Moskaus gewesen, damit Finnland nach der militärischen Niederlage gegen die Sowjetunion überhaupt seine Unabhängigkeit bewahren konnte. Als die UdSSR 1991 zusammenbrach, schien keine Notwendigkeit zur Aufgabe der Neutralität zu bestehen, zumal Finnland sich 1995 der EU anschliessen konnte. Ein Fenster für einen Nato-Beitritt hätte sich laut Analytikern 2004 ergeben, als die baltischen Republiken in die Allianz aufgenommen wurden. Doch Finnland, das sich als Brückenstaat zwischen dem Westen und Russland verstand, sah keinen Grund, seine Sicherheitspolitik zu revidieren. Nach Russlands Krim-Annexion 2014 wiederum traten Befürchtungen in den Vordergrund, dass man mit einem Nato-Beitritt Russland unnötig provozieren könnte. Diese Befürchtungen werden zwar auch jetzt bisweilen geäussert. Doch angesichts des Kriegs in der Ukraine verlieren sie an Gewicht gegenüber der zusätzlichen Sicherheit, die eine Nato-Integration bieten würde. Dass Russland tatsächlich auch Finnland angreifen könnte, wie der ukrainische Präsident Selenski in einer viertelstündigen Videobotschaft an das finnische Parlament am Freitag warnend meinte, steht zwar nirgends geschrieben und wird auch von Präsident Niinistö für wenig wahrscheinlich gehalten. Doch seit dem ebenfalls weitherum als unwahrscheinlich erachteten Überfall auf die Ukraine kann auch niemand mehr sicher sein, dass Moskau es nicht tun würde. Der Kreml droht seit Jahren, dass allfällige Nato-Beitritte Finnlands und Schwedens «Folgen haben werden». Welcher Art diese wären, wird bewusst offengelassen. Putins Sprecher Peskow sagte am Donnerstagabend lediglich, Russland werde die Balance an der Grenze «neu justieren müssen». Als existenzielle Bedrohung, die einen Kernwaffeneinsatz rechtfertigen würde, sehe man einen Beitritt aber nicht. Bleibt Schweden allein zurück? Ohnehin sind Schweden und Finnland schon so stark in Nato-Strukturen integriert, wie es nur möglich ist ausserhalb einer Mitgliedschaft – ein bekanntes Bonmot eines finnischen Ex-Diplomaten lautet, es sei wie Rauchen, ohne zu inhalieren. Wenn Finnland nun aber den letzten Schritt auch noch tut, bringt das Schweden in eine heikle Situation. Jahrelang galt zwischen den beiden Ländern das Mantra, dass keines das andere allianzfrei zurücklassen würde. Nun empfindet Finnland die Lage aber als deutlich dringlicher denn Schweden. Dort ist die Diskussion zur Neutralität zwar auch in Gang gekommen, und Ministerpräsidentin Andersson hat unlängst die traditionelle Blockade-Haltung der schwedischen Sozialdemokraten aufgegeben, über die Nato-Option auch nur zu reden, und schliesst auch einen Beitritt nicht a priori aus. Doch Schweden wählt im Spätsommer. Andersson wird einen sicherheitspolitischen Schnellschuss, der jahrzehntealte Dogmen über den Haufen werfen und von ihrer Stammwählerschaft deshalb wohl kontrovers aufgenommen werden würde, vermeiden wollen. Die bürgerliche Opposition wiederum drängt auf Tempo in der Nato-Frage. Meinungsumfragen zeigen zwar im Grundsatz eine ähnliche Tendenz wie in Finnland, aber schwächer ausgeprägt: Eine Nato-Mitgliedschaft fand erstmals im März eine knappe Mehrheit unter den Befragten.