Saturday, April 9, 2022

Chloé Morin zur Wahl in Frankreich: "Die Leute denken: Le Pen liebt ihre Katzen, sie ist eine von uns"

ZEIT ONLINE Chloé Morin zur Wahl in Frankreich: "Die Leute denken: Le Pen liebt ihre Katzen, sie ist eine von uns" Annika Joeres - Vor 5 Std. An Politiker werden zu hohe Ansprüche gestellt, sagt die Politikwissenschaftlerin Chloé Morin. Frankreich prophezeit sie für die Zeit nach den Wahlen schwierige Zeiten. Präsident Emmanuel Macron hat es in Frankreich schwer – die Umfragen deuten für die anstehenden Wahlen auf ein enges Rennen zwischen ihm und der Rechtspopulistin Marine Le Pen hin. Die Welle der Unzufriedenheit trifft viele Demokratien, aber selten mit so viel Wucht wie in Frankreich, sagt die Politikwissenschaftlerin Chloé Morin. Den Hass gegen Politiker werde das Land aber nur los, wenn sich das gesamte politische System Frankreichs ändere: Der Präsident müsse von seiner Macht abgeben, der Nationalversammlung und der Opposition ein angemessenes Mitspracherecht eingeräumt werden. Eine Bewegung wie die Gelbwesten, sagt Morin, werde in Zukunft nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel sein. ZEIT ONLINE: Am Sonntag wählt Frankreich ein neues Staatsoberhaupt – der Rechtspopulistin Marine Le Pen werden echte Chancen eingeräumt, Präsidentin zu werden. Sie machen die permanente Verdrossenheit des französischen Volkes für ihren Aufstieg verantwortlich – warum? Chloé Morin: Das französische Volk ist mit seiner Regierung unzufriedener als viele andere. Politiker werden beschimpft und ausgebuht, die Leute erwarten von ihnen mehr Geld im Portemonnaie und zugleich weniger Arbeit. Ich war Beraterin unter den sozialistischen Premiers Marc Ayrault und Manuel Valls und habe für mein Buch mit Dutzenden Politikerinnen und Politikern gesprochen. Sie alle sagen: Es ist ein Knochenjob, wir arbeiten 60 bis 70 Stunden, wir versuchen unser Bestes – aber wir werden nie geliebt. Es existiert ein Riesengraben zwischen der täglichen Arbeit dieser Menschen und dem Volk. Die Welle der Unzufriedenheit trifft viele Demokratien, aber selten mit so viel Wucht wie in Frankreich. ZEIT ONLINE: Sie sagen, die Populisten haben gute Tage in Frankreich vor sich. Ist das nicht auch die Folge von Erwartungen, die auch seriöse Politiker schüren? Ständig wiederholen Emmanuel Macron und seine Abgeordneten, dass Frankreich das beste Gesundheitssystem, die besten Schulen und die glorreichste Geschichte habe. Morin: Ja, natürlich führt das zu Frust bei jemandem, dem es gerade nicht so gut geht. Diese Wählerinnen und Wähler landen heute mehrheitlich bei Le Pen. Ständig wird der französische Narzissmus gekränkt, weil wir sehen, dass eben doch nicht alles Weltklasse ist, dass wir die Corona-Patienten nicht bestmöglich versorgen konnten. Die Rechtsextremen Marine Le Pen und Éric Zemmour versprechen, eine eingebildete Großartigkeit des Landes wieder herzustellen, die es ohnehin nie gab. Wir wären also gut beraten, uns in Bescheidenheit zu üben, unserer eigenen Geschichte und unserem eigenen Staat gegenüber. Und damit optimistischer unsere eigene Lage zu beurteilen. Heute glaubt eine große Mehrheit, dass es ihren Kindern später schlechter gehen wird als ihnen selbst. Die Angst vor dem Abstieg ist groß, auch in der Mittelschicht. ZEIT ONLINE: Auch die Menschen, die sich den Gelbwesten-Protesten angeschlossen haben, sind häufig jene, die sich selbst als Verlierer empfinden. Wie schätzen Sie die Bedeutung dieser Bewegung ein? »Heute entscheidet Macron über alles – gewählt hat ihn aber nur jeder fünfte Franzose aus Überzeugung.« Chloé Morin Morin: Die Gelbwesten sind für mich der prägende Moment der Regierungszeit von Macron. Es war eine völlig neue Bewegung, die alle Repräsentanten abgelehnt hat – sie wollten keine Partei, keine Gewerkschaft als Vermittler, jeder bekanntere Sprecher der Gelbwesten wurde sofort abgesägt. Sie glaubten nicht mehr an Wahlen oder Politiker: Die Leute sitzen auf der Straße, am Kreisverkehr, organisieren sich selbst. Diese Art der politischen Auseinandersetzung wird nicht die Ausnahme bleiben, sondern die Regel werden. Diese Menschen fühlen sich heute noch geringgeschätzt, ihre Wünsche nach größerer Mitbestimmung wurden in der anschließenden Debatte mit Macron nicht erhört. Sie haben das Gefühl behalten: Etwas kaputtzuschlagen ist erfolgreicher, als zu debattieren. ZEIT ONLINE: Das politische System in Frankreich ist ja auch nicht auf einen Austausch mit dem Volk oder seinen Abgeordneten angelegt. Der Präsident hat weitreichende Entscheidungsmacht, Macron konnte in der Corona-Pandemie monatelange Lockdowns mit Ausgangssperren und Bewegungsradien ohne Diskussion beschließen. Morin: Ja, deshalb kommen wir aus diesem Hass gegen Politiker nur raus, wenn das gesamte System geändert wird. Nur wenn der Präsident von seiner Macht abgibt, wenn in der Nationalversammlung und in den Stadträten die Opposition auch ihrem Ergebnis angemessen mitreden kann, fühlen sich die Menschen repräsentiert. Heute entscheidet Macron über alles – gewählt hat ihn aber nur jeder fünfte Franzose aus Überzeugung. Wenn wir alle Wahlberechtigten zählen, sogar noch sehr viel weniger Menschen. Diese geringe Zustimmung hat sich fünf Jahre lang verstärkt. Das präsidiale System verstärkt die Illusion einer politischen Einstimmigkeit, obwohl es ein sehr zerstrittenes Land ist. Aber nur der Linke Jean-Luc Mélenchon will die Macht des Präsidenten beschneiden – alle anderen trauen sich nicht, an dem Erbe von Charles de Gaulle zu rütteln. ZEIT ONLINE: Ihr Buch wirkt wie eine Verteidigungsschrift von Politikerinnen und Politikern, sie betonen, dass sie ihr Bestes versuchten. Fakt ist, dass – bis auf den Sozialisten François Hollande – alle früheren Präsidenten Frankreichs gerichtliche Prozesse wegen Korruption und vieler weiterer Delikte auf sich geladen haben, allein gegen Nicolas Sarkozy laufen zwölf Ermittlungsverfahren. Wie sollen die Franzosen da an die Redlichkeit ihre Politiker glauben? Morin: Ich verschweige auch nicht die Korruption und den Konformismus, die Angst vor neuen Wegen. Ich möchte aber weg von dieser apokalyptischen Sicht, dass alle Politiker nur Egoisten sind. Viele haben ihre Lektion gelernt, sie sind viel demütiger als früher, nehmen weniger Privilegien in Anspruch. Korruption und Inkompetenz ist nicht eine Frage der Politik – sondern eher eine der Generationen. Auch die Gesetze haben sich geändert, Politiker müssen etwa ihr Vermögen und potenzielle Interessenkonflikte offenlegen. Sie sind heute dem gemeinen Menschen viel ähnlicher als früher. ZEIT ONLINE: Gerade Macron wird als unnahbar empfunden, als roboterhaft. Warum? Morin: Auch das ist typisch französisch: Wenn wir einen durchschnittlichen Typen im Amt haben wie François Hollande, einen, der Witze reißt und mit dem Mofa Croissants einkauft, wird ihm vorgeworfen, er habe nicht die passende Statur für dieses glorreiche Amt. Ein abgehobener Typ wie Macron, der fast aus dem Nichts eine Partei gründet und zum jüngsten Präsidenten des Landes aufsteigt, wird ebenso abgrundtief gehasst. Er polarisiert sehr. Im Augenblick hat er seine Kampagne falsch geplant, von seinem Programm blieb einzig die Rente mit 65 hängen. Das ist für die meisten kein schöner Ausblick. »Le Pen würde mehr enttäuschen als alle anderen.« Chloé Morin ZEIT ONLINE: Sie haben für ihr aktuelles Buch auch Marine Le Pen interviewt und beschreiben selbst, wie nahbar und menschlich sie war. Morin: Le Pen kann sich erfolgreich als volksnah verkaufen. Sie vermittelt, eine von uns zu sein – Macron aber kann nie einer von uns sein. Er ist zwar ein guter Schauspieler, aber nicht wirklich überzeugend. Le Pen hingegen erzählt Anekdoten von ihren Tieren und ihrer Ausbildung zur Katzenzüchterin – das nahm ich ihr ab. Auch die Leute denken: Le Pen liebt ihre Katzen, sie ist eine von uns. ZEIT ONLINE: Das ist die Ironie ihrer Analyse – ausgerechnet die Frau mit einem rechtsextremen Programm erscheint als die menschlichste. Was würde passieren, wenn sie tatsächlich gewinnt? Morin: Le Pen würde mehr enttäuschen als alle anderen. Sie hat keine kompetenten Leute um sich herum, mit wem soll sie regieren? Zugleich ist sie diejenige, die die größten Erwartungen schürt – auf ein Frankreich, das unabhängig von allen anderen in Saus und Braus leben kann. Eine völlig unrealistische Vision. Aber egal, wer gewinnt, das Resultat wird knapp ausfallen. Wir werden nach der Wahl ein fast unregierbares Land vorfinden. Der Gewinner oder die Gewinnerin wird es schwer haben und mit massenhaften Protesten umgehen müssen.