Thursday, November 2, 2023

Wie klingen die denn plötzlich?

t-online Wie klingen die denn plötzlich? Artikel von Johannes Bebermeier • 5 Std. Die Grünen Wie klingen die denn plötzlich? Ricarda Lang und Winfried Kretschmann: Die ganz große innerparteiliche Koalition in der Migrationspolitik. Ein Gastbeitrag der Grünen hat Wirbel ausgelöst. Er schlägt in der Migrationspolitik einen neuen, härteren Ton an. Das finden längst nicht alle in der Partei gut. Wenn das Boulevardblatt "Bild" und die linke Tageszeitung "taz" mal eine Nachricht einhellig wichtig finden, dann lohnt es sich, genauer hinzuschauen. Besonders, wenn es um die Grünen geht. "Grünen-Promis fordern Asyl-Wende" schreibt die "Bild"-Zeitung mit der kommentierenden Ergänzung: "Plötzlich in der Wirklichkeit angekommen". Auf dem Titel der "taz" prangt: "Die neue grüne Asylpolitik", illustriert mit einem roten Ampelmännchen, das signalisiert: Halt, Stopp! Asylwende? Neue Politik? Was ist denn jetzt passiert? Nun, einerseits gar nicht so viel. Mit der Parteichefin Ricarda Lang und dem baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann haben zwei führende Grünen-Politiker einen Gastbeitrag im "Tagesspiegel" zur Migrationspolitik geschrieben. Die fünf konkreten Vorschläge, die sie machen, sind schon seit Wochen Linie der Partei. Doch in der Politik kommt es eben oft nicht nur auf konkrete Vorschläge an, sondern auch auf den Ton, in dem sie vorgetragen werden. Und der ist in einigen Passagen des Beitrags so geraten, dass er wie etwas Neues wirkt für die Grünen. Und für viele linke Grüne tatsächlich etwas Neues wäre. Deshalb gibt es in der Partei nun auch Widerstand. Die fünf konkreten Vorschläge der Parteichefin und des Ministerpräsidenten sind schnell referiert: Der Bund soll die Kommunen besser unterstützen. Es braucht rasch das Gemeinsame Europäische Asylsystem. Die Asylverfahren in Deutschland müssen schneller gehen. Es braucht Migrationsabkommen mit den Herkunftsstaaten. Und wer arbeiten kann, soll auch arbeiten dürfen. Es sind Positionen, auf die sich viele Grüne im Grundsatz einigen können. Die Parteispitze versucht sie schon seit Wochen immer wieder zu formulieren. So richtig dringt sie damit in der aufgeheizten Debatte aber nicht durch, das sehen auch intern viele so. Der Gastbeitrag ist deshalb der Versuch, sie für die Öffentlichkeit noch einmal konzentriert darzulegen. Doch er ist mehr als das. Der Text soll auch als Signal in die Partei wirken, als Versuch, die besonders in der Migrationspolitik aufgewühlten Grünen auf eine gemeinsame Position zu verpflichten. Um öffentlich geschlossener auftreten zu können, als das in den vergangenen Wochen gelungen ist. Eine ungewöhnliche Koalition Dafür ist es wichtig zu beachten, wer hier eigentlich schreibt: Mit Ricarda Lang ist das die Parteichefin vom linken Grünen-Flügel, die auch gute Verbindungen in die sehr linke Grüne Jugend hat. Winfried Kretschmann ist der einzige grüne Ministerpräsident und Vorbild für viele im ultrapragmatischen Realo-Flügel. Manche linke Grüne halten Kretschmann in der Migrationspolitik für zynisch. Manche Realos halten die linken Grünen für weltfremd. Wenn mit Kretschmann und Lang zwei so prominente Vertreter der Flügel einen Gastbeitrag schreiben, soll das die ganz große innerparteiliche Koalition symbolisieren. Er soll beide Seiten auf eine gemeinsame Basis verpflichten, auf einen Kompromiss, für den sich alle bewegen müssen. Und er soll den innerparteilichen Konflikt befrieden helfen. Linke halten Text für kontraproduktiv So richtig gut scheint das mit der Befriedung allerdings nicht zu funktionieren. Die zum Realo-Flügel zählende Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt lobte den Text auf der Plattform X (vormals Twitter) zwar schnell als "Angebot an die demokratische Mitte". Im linken Flügel aber hält man ihn eher für kontraproduktiv. Das liegt an einigen Sätzen im Gastbeitrag, die Linke als Zugeständnis an eine nach rechts verrutschte Migrationsdebatte sehen. Und die sie für falsch und gefährlich halten. "Nicht jeder Mensch, der zu uns kommt, kann bleiben" ist so ein Satz. Ein anderer lautet: "Die Bereitschaft, weitere Geflüchtete aufzunehmen, nimmt so immer mehr ab – bis weit in die Mitte der Gesellschaft." Genau wie der Verweis darauf, dass nun auch die Zahl der Asylbewerber sinken müsse. Nur wenige Linke wollen den Gastbeitrag öffentlich kritisieren, um den Konflikt nicht noch zu verstärken. Die Bundestagsabgeordnete Misbah Khan hat es im Gespräch mit der "taz" trotzdem getan. Und sie formuliert eine Kritik, die viele teilen: "Es gibt Grundrechte, und die können wir Menschen nicht deshalb absprechen, weil unsere Infrastruktur überlastet ist", sagt sie. "Wenn wir uns gut vorbereiten, dann können wir mit einer großen Zahl an Menschen umgehen." Fluchtbewegungen werde es immer geben, sagt Khan. Man müsse schauen, wie diese Herausforderung nachhaltig bewältigt werden könne. Diese Realität, glauben viele linke Grüne, sollte auch die Debatte prägen. Der Gastbeitrag hingegen tut aus ihrer Sicht so, als gebe es einfache Wege, die Zahlen zu reduzieren. Und festigt damit für sie eine Realitätsverweigerung, die am Ende, wenn die Zahlen nicht sinken, zu Enttäuschungen führe und die Rechtsextremen weiter stärke. Der Beitrag, so kann man es zusammenfassen, wiederholt aus linker Sicht falsche Grundannahmen und biedere sich so einer verrutschten Debatte an. Nötig wäre für die Grünen aber, so glaubt man im linken Flügel, den falschen Grundannahmen zu widersprechen. Das aber machen die Realos wohl nicht mit, die mit Robert Habeck auch noch den mächtigen Vizekanzler stellen. Es wird also turbulent bleiben mit den Grünen und der Migration.