Monday, February 13, 2023
In Frankreich wächst der Widerstand gegen die Woke-Bewegung
Frankfurter Allgemeine Zeitung
In Frankreich wächst der Widerstand gegen die Woke-Bewegung
Artikel von Jürg Altwegg • Vor 34 Min.
Schneeflocken verzaubern die Welt, die ersehnte Revolution des Menschengeschlechts beginnt als Schneeballschlacht: Sasha ist im Körper eines Jungen zur Welt gekommen, ist sich aber sicher, ein Mädchen zu sein. Über die Ursachen einer Dysphorie wisse man wenig, sagt die Psychiaterin. Sie weiß aber ganz genau, dass nicht die Wünsche der Mutter das Geschlecht des Kindes bestimmen – die Mutter wollte eine Tochter.
Im Film „Petite Fille“ von Sébastien Lifshitz kommt Sasha nur unter dem liebevollen Blick seiner Mutter zu Wort. Sie dominiert das Geschehen. Der Film endet damit, dass die Achtjährige als Mädchen zur Schule gehen darf. „Wir alle“, sagt ihre Mutter, „haben in dieser Welt eine Mission.“ Sasha müsse der Gesellschaft mehr Toleranz und Offenheit bescheren, sie selbst müsse ihrer Tochter dabei helfen. Der Schluss des Dokumentarfilms, den auf Arte drei Millionen Zuschauer sahen, ist so kitschig wie sein Anfang: Sasha tanzt – mit den Flügeln eines Engels oder Schmetterlings, der bekanntlich eine Raupe war.
Der Traum von einer „nicht binären Welt“
„Der Transsexuelle ist die Zukunft der Menschheit“, bringt die Journalistin Eugénie Bastié das Buch „Dysphoria mundi“ des Philosophen und Schriftstellers Paul B. Preciado auf den Punkt. B. steht für Beatriz – so nannte sich der Autor bis vor ein paar Jahren. Sein „Wunsch, außerhalb der vorgeschriebenen Normen zu leben“ sei als „klinische Pathologie“ behandelt worden, bekundet Preciado. Seine „Dysphorie der Welt“ beginnt mit detaillierten Angaben über die medizinischen Maßnahmen seiner laufenden Geschlechtsumwandlung.
Es ist eine Kritik der „patriarchalisch-kolonialen Herrschaft des Wissens und der Macht“, gegen die „Tausende von Jugendlichen rebellieren“. Aus der „transsexuellen Revolution“, verheißt Preciado, werde eine neue „nicht binäre Welt“ hervorgehen. Den französischen Staat fordert er auf, die abgebrannte Kathedrale Notre-Dame in ein Forschungsinstitut für Queer, Trans, Feminismus, Gay zu verwandeln und als Heim für Opfer von sexueller Gewalt zu betreiben. Im Vorwort stilisiert Judith Butler „Dysphoria mundi“ zum „Monument“, das „die Geschichte anders schreibt“: „Preciado transzendiert die Gattungen und Geschlechter, dekonstruiert uns im besten Sinne und kämpft gleichzeitig gegen die schlimmsten Formen der Zerstörung.“
Die Transbewegung mit „Petite Fille“ Sasha als Ikone und Preciado als Theoretiker hat im Paradigma der „Intersektionalität“ Black Lives Matter (BLM) und MeToo als Avantgarde abgelöst. Die Stoßtruppe der Woke-Revolution propagiert das sexuelle Selbstbestimmungsrecht der Kinder. Lifshitz, der Regisseur, die Schriftstellerin Virginie Despentes und die Schauspielerin Adèle Haenel engagieren sich „für das Recht, sein Kind in seiner Genderidentität zu begleiten“. Den Aufruf hat Paul B. Preciado verfasst. Er plädiert für ein Verzögern der Pubertät: „Auf diesem Weg erforschen unsere Kinder während ihrer Kindheit ihr Geschlecht.“
Wer cancelt was?
Vor den Transaktivisten zittern die Universitäten. In Genf wurde Éric Marty, der in „Le Sexe des Modernes“ Gender als „letzte ideologische Botschaft des Westens“ bezeichnet, tätlich angegriffen und bespuckt, sein Manuskript zerrissen: „Transphobie“ lautete der Vorwurf. Reihenweise werden in Frankreich Veranstaltungen mit den Psychoanalytikerinnen Céline Masson und Caroline Eliacheff gestört oder abgesagt. Die Autorinnen diagnostizieren in „La fabrique de l’enfant transgenre“ eine „Mode der Transidentität als Teil einer ideologischen Subkultur mit sektiererischen Zügen“, die sich im Internet verbreite. In Brüssel wurde eine Debatte durch eine Attacke mit Tierkot unterbrochen, nach dem Einschreiten der Polizei konnte sie weitergehen. Die Zeitungen berichten von „faschistischen Methoden“ der Demonstranten.
Die Historikerin Laure Murat („Qui annule quoi? Sur la cancel culture“) fragt: Wer cancelt was? Eine „ideologische Kampagne“ macht sie bei Masson und Eliacheff aus. Nicht bei den Trans-Eltern – ihre Kritikerinnen würden die Kinder in Geiselhaft nehmen, um ihr „offizielles Programm“ durchzusetzen: Es seien „die geschlechtlichen Unterschiede und ihre symbolische Ordnung, in deren Namen das Leben so vieler Lesben und Gays zerstört wurde“. Der Begriff der „Cancel Culture“, argumentiert Murat, sei eine Schöpfung der amerikanischen Rechtsextremisten im Kulturkampf gegen die gesellschaftlichen Fortschritte von BLM und MeToo. Wie Murat befürwortet die Soziologin Karine Espineira die „Umkehrung der Gewalt“: „Gecancelt wurden an den Universitäten die Transmenschen.“
Die Rückkehr der „French Theory“ als Cancel Culture
Frankreich ist im Begriff, seine erste Theoretikerin der Transidentität zu entdecken. Vor zwanzig Jahren, im Januar 2003, starb die Schriftstellerin und Philosophin Monique Wittig. Sie hatte mehrere Romane veröffentlicht, 1964 bekam sie den Prix Médicis. 1968 nahm sie an der Besetzung der Sorbonne teil und übersetzte Herbert Marcuses „Der eindimensionale Mensch“. Monique Wittig gehörte zu den Begründerinnen des „Mouvement de Libération des Femmes“ (MLF), geriet aber in Konflikt mit der Frauenbewegung: Sie attackierte „die Heterosexualität als politisches Regime der Herrschaft der Männer“. Traditionelle Geschlechterzuschreibungen lehnte sie ab:„Lesbierinnen sind keine Frauen.“ Im Streit zog sie nach Amerika.
Judith Butler unterstreicht Monique Wittigs Bedeutung in ihrem Klassiker über „Das Unbehagen der Geschlechter“. In Frankreich, wo Wittigs englischsprachige Schriften mit großer Verspätung oder gar nicht erschienen, gehörten Virginie Despentes und Paul B. Preciado zu deren ersten Lesern. „Le corps lesbien“ (1973) wird neu aufgelegt. Monique Wittig ist ein weiteres Beispiel für die Rezeption der französischen Postmoderne in den Vereinigten Staaten, wo sie zur „French Theory“ wurde. Als Woke und Cancel Culture kam sie nach Frankreich zurück. Eric Marty hat die Vulgarisierung mit dem von Adorno beschriebenen Umgang der Amerikaner mit der Psychoanalyse verglichen.
Postmoderne Kritik beherrscht auch Alexander Dugin
Der Ideenhistoriker Pierre-André Taguieff deutet den „militanten und ideologisierten Hass auf die europäische Kultur“, den Woke predige, als „Diabolisierung des Westens“. Die „Dekonstruktion“ führt er auf den Einfluss von Heidegger und Nietzsche in Frankreich zurück. Taguieff kennt die philosophische und politische Wirkungsgeschichte der französischen Postmoderne in beiden Ländern. „Black Lives Matter wurde 2013 von drei militanten Marxistinnen begründet“, hält er in „Pourquoi déconstruire?“ fest. Aus dem Antirassismus wurde ein Rassismus. Die Umschreibung der Geschichte belegt er mit dem Hinweis auf Historiker, die den Anfang der Demokratie nicht in Athen, sondern in Afrika situieren. Woke versteht Taguieff als Wiedergeburt der „revolutionären Utopie“.
Nebenbei weitet er seine Darstellung auf den russischen Nationalisten und Ideologen Alexander Dugin aus. Dugin kennt die französische Postmoderne und zitiert ihre Autoren. Die Dekonstruktion der westlichen Hegemonie unterstützt er laut Taguieff „ohne Einschränkung“. Sie entspricht dem Willen „zum Umsturz der Diktatur des Westens“. Dugin benutzt das „Arsenal der postmodernen Kritik“. Verworfen aber wird das von Woke angerichtete „allgemeine Chaos“ mit der „Umkehrung der Hierarchie“ und der „Auflösung ihrer Komponenten“: Geschlecht, Wissen, Gesellschaft, Politik.
Kein französischer Woke-Anwalt beschränkt sich auf die Dekonstruktion als Methode zur Analyse der Strukturen von Macht und Herrschaft. In ihren Büchern verhöhnen sie die „Panik“ der Reaktionäre – der Begriff kommt in mehreren Titeln vor. Beim Politologen Francis Dupuis-Déri („Panique à l’Université“) ist ihre Angst vor der „imaginären Bedrohung“ ein Leitmotiv. Der Professor in Montreal verspottet sie als „Albtraum der Konservativen“. François Furet und Alain Finkielkraut hätten schon in den Neunzigerjahren den Kulturkampf der amerikanischen Rechtsextremisten nach Paris geholt und instrumentalisiert.
Damals ging es erst um die „politische Korrektheit“ gegenüber den diskriminierten Minderheiten, deren Emanzipation im Mai 1968 begonnen hatte. Sie mündete in eine „Tyrannei der Tugend“, mit der sich der Schriftsteller Pierre Jourde („La Tyrannie vertueuse“) befasst: „Wir erleben die Rückkehr der moralischen Ordnung.“ Sie erinnert ihn an die „Skandale, Zensur, Prozesse“ (gegen Flaubert, Baudelaire) während der Restauration im 19. Jahrhundert. „Woke“ definiert Jourde als Hegemonie der Identität und Verzicht auf die Universalität. Im Namen einer „verabsolutierten Partikularität“ werden Zensur und Selbstzensur ausgeübt. Auch für Anliegen, die Jourde unterstützt: „Ich bin Feminist und für die Ehe für alle.“
Das neue Tabu der „kulturellen Aneignung“ deutet er als Negation der Kultur. Wer Beethoven als Demütigung der Schwarzen empfindet, werde zum Rassisten, der ihre „Identität“ auf Rap und Tamtam-Trommeln beschränke. Woke ist für Jourde „kein politisches, sondern ein moralisches Denken“: „Man will das Böse ausradieren.“ Literatur wird unmöglich: „Als ob Bataille für die Priester des rassischen und feministischen Gutdenkens nicht existiert hätte.“ Kein Witz: In einer LGBT-Gruppe unterstellen Transfrauen einer Lesbierin, die ihre Avancen abweist, Transphobie. Gegen die moralische Ordnung zitiert Jourde Sartre und setzt auf Humor, Satire, Kritik: „Merci, Charlie Hebdo.“
Mit der Ironie Voltaires will Bérénice Levet den neuen Obskurantismus überwinden. Die Philosophin („Le Courage de la dissidence“) erwähnt die Kampfansage der „New York Times“: „Bedrohen die amerikanischen Ideen den Zusammenhalt Frankreichs?“ Der Widerstand wächst, die Gegenoffensive kommt in Gang. Wenn Frankreich aus seiner Identitätskrise herausfindet, ist Levet überzeugt, werde es mit dem Spuk ein Ende nehmen. „Der ‚esprit français‘ wird über Woke triumphieren.“