Wednesday, March 30, 2022

Zu wenig Kraft, schlecht aufgeklärt, kein Überraschungseffekt: Blamiert sich die russische Armee in der Ukraine

Neue Zürcher Zeitung Deutschland Zu wenig Kraft, schlecht aufgeklärt, kein Überraschungseffekt: Blamiert sich die russische Armee in der Ukraine? Georg Häsler, Bern - Vor 9 Std. Das Lagebild verändert sich seit Tagen kaum. Auf der Übersichtskarte wirkt die russische Offensive wie eingefroren. Neue Gebietsgewinne sind nicht zu erkennen. Die militärischen Bewegungen werden erst im kleinen Massstab sichtbar. Der Krieg scheint sich um einzelne Schlüsselpositionen zu drehen. In der westlichen Wahrnehmung hat die russische Armee die angestrebten Ziele in der Ukraine nicht oder noch nicht erreicht. Die Ankündigung Moskaus, sich in einer «zweiten Phase» der «Spezialoperation» auf die Donbass-Region zu konzentrieren, verstärkt diesen Eindruck zusätzlich. Steuert die Militärmacht Russland auf eine Blamage zu? Der russische Generalstab verzichtet in seinen Briefings vordergründig auf eine Verschleierung der räumlichen Lage. Die Karten, die er veröffentlicht, weichen wenig von den Darstellungen im Westen ab. Aufschlussreich ist deshalb die Detailansicht der derzeitigen Kämpfe, wie sie der Blogger «Jomini of the West» auf Twitter veröffentlicht. Wer sich hinter dem Pseudonym verbirgt, ist unbekannt. Im Profileintrag bezeichnet er sich als «Polemologist», also als Kriegswissenschafter, aus dem amerikanischen Gliedstaat Maryland. Jomini ist eine Referenz an den Schweizer Militärtheoretiker Antoine-Henri Jomini aus Payerne, der unter Napoleon 1812 am Russlandfeldzug teilnahm. Später wechselte er die Seiten und war Mitbegründer der russischen Militärakademie. Die Präzision der Darstellung von «Jomini of the West» auf der Basis öffentlich zugänglicher Quellen ist unbestritten. Eine Analyse der zur Verfügung stehenden Informationen über die taktische Lage in den Schlüsselgeländen aus verschiedenen Quellen ist ein möglicher Ausgangspunkt, um die verhältnismässig geringen Geländegewinne der russischen Armee zu verstehen. Lage der letzten fünf Tage auf taktischer Stufe Kiew: Der ukrainischen Armee gelingt es westlich der Hauptstadt, in kleinen Gegenoffensiven die russischen Kräfte zurückzudrängen. Noch stärker ist dieser Trend östlich des Dnipro zu beobachten. Es wird aber auch deutlich, dass die ukrainische Armee mindestens neun ihrer Kampfbrigaden in Kiew und dem Umland eingesetzt hat. Auch wenn der Sturm auf Kiew kein militärisches Primärziel des Kremls mehr zu sein scheint, bindet die Belagerung der Hauptstadt einen gewichtigen Teil der ukrainischen Kräfte. Dies nützt der russischen Seite beim Kampf im Südosten der Ukraine. Sumi-Front: Offensichtlich gelingt es der russischen Armee nicht, den Nachschub für einen weiteren Vorstoss an der Stadt Sumi vorbei nach Westen zu bringen. Ukrainischen Infanterieverbänden gelingt es, die russischen Truppen in der Tiefe des Raums zu stören und aus der Flanke die Marschachsen des Angreifers zu schmälern. Donbass-Front: Eigentlich hat Moskau angekündigt, hier den Fokus der zweiten Phase der «Spezialoperation» zu legen. Doch auch der Vorstoss aus den sogenannten Volksrepubliken in die von den Separatisten beanspruchten restlichen Teile der Provinzen Donezk und Luhansk harzt. Wieder scheinen ukrainische Gegenangriffe die Angreifer im Schlüsselgelände um Isjum zu binden. Zudem zahlen sich offenbar die ukrainischen Befestigungen an der Frontlinie aus. Mariupol: Die russische Armee und die Truppen der Donbass-Separatisten vermögen immer tiefer in die umkämpfte Hafenstadt am Asowschen Meer vorzustossen. Der Widerstand der drei ukrainischen Brigaden in der Stadt ist noch nicht gebrochen. Beide Seiten erleiden beträchtliche Verluste. Südliche Front: Den Vorstoss nach Odessa konnte die ukrainische Armee vorerst verhindern. Sie konnte die russischen Truppen aus der Schlüsselstadt Mikolajiw zurückdrängen. Ebenso scheint sie die vollständige Kontrolle über die Stadt Cherson am Dnipro verloren zu haben, hält aber weiterhin den Flussübergang. Möglicherweise ist die russische Armee zurzeit dabei, ihre Kräfte neu zu formieren und auf das neue operative Ziel «Donbass» auszurichten. Doch die gegenwärtige Lage zeigt, dass die Truppen des Kremls trotz oder vielleicht auch wegen der Reformen der letzten Jahre nicht in der Lage sind, eine schnelle Entscheidung herbeizuführen. Eingeschränkte Führungsfähigkeit Das Rückgrat der russischen Verbände sind die sogenannten BTG. Die Abkürzung steht für Battalion Tactical Group. Diese verstärkten Kampfbataillone sollten einen flexiblen Einsatz in allen Lagen ermöglichen. Sie verfügen über alle relevanten Waffensysteme für den Angriff und die Verteidigung: Panzer, Artillerie, Flieger- und Panzerabwehr, dazu Panzergrenadiere. Doch die Flexibilität der BTG ist auch ihre Schwäche, weil sie wie ein Gemischtwarenladen funktionieren. Sie haben von allem etwas, aber scheinen nicht in der Lage zu sein, klare Schwergewichte zu bilden. BTG sind geeignet, in einer asymmetrischen Lage wie eine Armee im Taschenformat zu funktionieren. Gegen einen ebenbürtigen Gegner wie die ukrainische Armee fällt es ihnen aber schwer, sich durchzusetzen. Beim Vorstoss in den ersten Tagen des Krieges dürften die Panzerkompanien oft auf den Rest der Kampfgruppe gewartet haben, womit sie zu leichten Zielen der ukrainischen Panzerabwehr wurden. Der Überraschungseffekt blieb damit aus. Möglicherweise konnten die Frontverbände auch nicht schnell genug zu den Luftlandetruppen vorstossen, die in der Tiefe des Raums – etwa nordwestlich von Kiew – Stützpunkte bildeten. Dazu sind die einzelnen BTG trotz allen Feuermitteln stark von der vorgesetzten Kommandostufe abhängig. Insbesondere, was die Aufklärung und Koordination der Waffensysteme angeht, scheinen die Kampfgruppen ohne direkte Einflussnahme der vorgesetzten Generäle verloren zu sein. Diese führen deshalb von vorne – und sind so exponierte Ziele für die ukrainische Armee, wie die Meldungen über den Tod hoher russischer Offiziere belegen. Zudem scheint die Vernetzung der BTG mit den vorgesetzten Stufen mangelhaft zu sein. Die Führung erfolgt konventionell über Funk. Die Fahrzeuge verfügen über zwei Antennen – eine für die interne Kommunikation innerhalb der Kampfgruppe, eine andere als Verbindung nach oben. Wenig belastbare Logistik Eine Auswertung abgefangener Funksprüche der ersten Kriegstage durch die «New York Times» zeigt, wie verloren viele Panzerbesatzungen waren. Es fehlt offensichtlich an Orientierung im Gelände und klarer Führung. Es ist gut möglich, dass die russische Armee auch deshalb das ukrainische Handynetz nicht ausgeschaltet hat, weil sie selber auf die Kommunikation per Smartphone angewiesen war – inklusive Zugriff auf das Kartenmaterial von Anbietern wie Google. In den ausgewerteten Funksprüchen wird auch die Angst der russischen Soldaten spürbar. Besonders beklemmend ist die Situation eines Panzerfahrers, der meldet, er brauche dringend Treibstoff. Doch der Nachschub bleibt aus – und der stehende Panzer samt Besatzung wird zum einfachen Ziel für ukrainische Javelin-Raketen. In der Theorie sollten die russischen BTG gemäss amerikanischen Quellen über 250 Kilometer ohne zusätzliche Munition und Treibstoff vorstossen können. Der Angriff westlich des Dnipro aus Weissrussland Richtung Kiew hätte also ohne zusätzliche Logistik den Stützpunkt der Luftlandetruppen auf dem Antonow-Flughafen erreichen sollen. Doch die Nachschub-Lastwagen der BTG sind auf die Strasse angewiesen und können, anders als die Panzer, im Fall von Sperren nicht ins Gelände ausschwärmen. Auf diese Schwäche der russischen Spitzenverbände dürfte es die ukrainische Armee in der ersten Phase abgesehen haben. Es ist schwer verständlich, weshalb die russischen Aufklärer die Taktik der Verteidiger nicht erkannt haben. Ein ukrainischer Soldat sammelt russische Waffen ein, die nach einem Kampf liegen geblieben sind. Geschickte Taktik der Ukrainer Wie die derzeitige Lage zeigt, gelingt es der ukrainischen Armee nun auch, die Angreifer an Schlüsselpositionen zurückzudrängen. Es sind nicht klassische Gegenangriffe mit Panzerverbänden, die den Gegner zerschlagen oder entscheidend treffen können. In diesem Bereich haben die Truppen Kiews ein Defizit. Die ukrainische Taktik kompensiert die Schwäche mit dem Einsatz schneller, mechanisierter Infanterieverbände, die vor allem auf die Inbesitznahme begrenzter Geländeteile fokussieren oder Nachschubwege abschneiden. Unterstützungsfeuer der ukrainischen Artillerie Insgesamt dürfte der russische Generalstab von einem asymmetrischen Kampf ausgegangen sein. Er schickte seine Truppen daher mit zu wenig Kraft und zu wenig Informationen über den Gegner in den Angriff. Dass die russische Armee sich nun auf den Südosten konzentrieren will, erscheint nachvollziehbar. Zwischen dem Kriegsverlauf und den Äusserungen Moskaus ist also eine gewisse Kohärenz zu erkennen. Dazu passt auch die Ankündigung der russischen Unterhändler an den Friedensgesprächen in Istanbul am Dienstag, die Stadt Kiew militärisch zu entlasten. Unabhängig davon, ob der Kreml Kiew mit seinen Ankündigungen täuscht: Die Lage in der Ukraine bleibt gefährlich. Auch mit der Konzentration auf ein Gebiet vermögen die Angreifer die ukrainische Armee mit einem härteren Vorgehen – mehr Feuer, mehr Kraft – einzukesseln und erheblich zu schwächen. So könnte der russische Präsident Wladimir Putin die schwache Leistung seiner Truppen in einen Erfolg ummünzen: Das Kriegsziel einer Demilitarisierung der Ukraine mit brutaler Waffengewalt wäre erreicht.